Gesammelte Werke 1
bestand auf ihrem Willen, so dumm, so verdammt dumm war sie damals. Da verprügelte er sie wieder, brutal, gnadenlos, ebenso wie er seine Wölfe prügelte, wenn sie versuchten, ihm den Gehorsam zu verweigern. Aber sie war kein Wolf; sie war unnachgiebiger, sturer als alle seine Wölfe zusammen. Und da zog er sein Messer aus dem Gürtel; er selbst hatte es aus einem Knochen gefertigt, den er im Wald gefunden hatte, und mit dem Lächeln eines Wahnsinnigen schlitzte er sich langsam den Arm auf, von der Hand bis zum Ellenbogen. Er stand vor ihr, mit diesem wie irren Lächeln, das Blut sprudelte aus seinem Arm wie Wasser aus dem Hahn, und er fragte: »Und jetzt?« Und noch ehe er zusammenbrach, wusste sie, dass er Recht hatte. Dass er immer Recht gehabt hatte, von Anfang an. Aber sie in ihrer unfassbaren Dummheit hatte es nicht einsehen wollen …
… Nachdem sie aus den Ferien zurückgekommen war, in seinem letzten Jahr im Internat, war es aus zwischen ihnen. Irgendetwas war geschehen. Wahrscheinlich hatten sie ihn schon im Griff. Oder sie hatten alles erfahren und furchtbare Angst bekommen, diese Idioten. Verdammte, intelligente Kretins. Er wandte sich von ihr ab und blickte durch sie hindurch. Und schaute sie nie wieder an. Sie existierte nicht mehr für ihn, wie all die anderen. Er hatte die Sache, die ihm gehörte, verloren und sich mit diesem Verlust abgefunden.
Und als er sich ihrer wieder erinnerte, war alles anders. Das Leben hatte für immer aufgehört, der geheimnisvolle Wald zu sein, wo er Herr und Gebieter war - und sie das Wertvollste, das er besaß. Sie hatten damit angefangen, ihn umzuformen; er war schon fast Progressor, schon auf halbem Wege in eine andere Welt, eine Welt, in der einer den anderen quält und verrät. Er hatte sich für diesen Weg entschieden, ging ihn festen Schrittes und erwies sich als guter Schüler, war fleißig und begabt. Er schrieb ihr, sie antwortete nicht. Er rief sie an, sie nahm nicht ab. Dabei hätte er weder schreiben noch anrufen sollen, sondern selber kommen, sie verprügeln, wie damals, und dann wäre vielleicht alles wieder geworden wie früher. Aber er war schon kein Gebieter mehr. Er war jetzt nur noch ein Mann wie all die vielen ringsumher, und er schrieb ihr auch nicht länger …
… Sein letzter Brief, wie immer von Hand geschrieben - denn er akzeptierte nur handgeschriebene Briefe, weder Kristall- noch Magnetaufzeichnungen -, war just von dort gekommen: aus dem Gebiet jenseits der Blauen Schlange. »Ein Mann stand am Tor, die Tiere davor«, schrieb er, »er nahm sein Gewehr, und sie lebten nicht mehr.« Weiter stand nichts in seinem letzten Brief …
Sie sprach wie im Fieber, schluchzte und schnäuzte sich die Nase in zerknüllte Labortücher, und plötzlich begriff ich - und eine Sekunde später sagte sie es selbst: Sie hatte sich am gestrigen Tag mit ihm getroffen. Zur selben Zeit, als ich sie angerufen und mit Toivo gesprochen hatte, während ich mit Jadwiga telefonierte, und während ich mich mit Seiner Exzellenz unterhielt, während ich mich zu Hause in den Bericht über die Operation »Tote Welt« vertiefte - diese ganze Zeit war sie mit ihm zusammen gewesen, hatte ihn angeschaut, ihm zugehört. Aber irgendetwas schien zwischen ihnen vorgefallen zu sein, weswegen sie sich jetzt bei einem Unbekannten ausweinte.
2. JUNI’78
Maja Glumowa und der Journalist Kammerer
Sie verstummte, als sei sie zur Besinnung gekommen, und auch ich kam wieder zu mir - nur ein paar Sekunden früher. Denn ich war im Dienst. Ich hatte zu arbeiten, hatte Pflichten. Und besaß Pflichtgefühl. Jeder muss seine Pflicht erfüllen. Diese stumpfen, abgedroschenen Phrasen. Nach alldem, was ich gehört hatte, hätte ich auf die Pflicht pfeifen und etwas tun müssen, um dieser unglücklichen Frau aus ihrer Verzweiflung herauszuhelfen. Vielleicht war das meine Pflicht?
Aber ich wusste, dass dem nicht so war. Und zwar aus vielen Gründen. Zum einen, weil ich gar nicht weiß, wie ich jemandem aus seiner Verzweiflung heraushelfen könnte. Ich hätte nicht einmal gewusst, wie und womit beginnen. Deshalb wäre ich am liebsten aufgestanden, hätte mich entschuldigt und wäre gegangen. Aber auch das konnte ich nicht tun, weil ich ja unbedingt herausfinden musste, wo sie sich getroffen hatten und wo sich Abalkin jetzt aufhielt.
Plötzlich fragte sie noch einmal: » Wer sind Sie?«
Maria Glumowa sprach mit tonloser, spröder Stimme; ihre Augen waren zwar getrocknet und glänzten wieder,
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