Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gesammelte Werke 1

Titel: Gesammelte Werke 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Strugatzki Boris
Vom Netzwerk:
Gesicht. Der Verdacht war zerstreut, die Scham war erwacht, und Erschöpfung kam über sie.
    »Ja«, sagte sie. »Ein Zusammentreffen von Umständen …«
    Jetzt war es an dem Journalisten Kammerer, kehrtzumachen und sich auf Zehenspitzen zu entfernen. Aber so einer war er nicht, der Journalist Kammerer. Er konnte eine so niedergeschlagene, gequälte Frau nicht einfach sich selbst überlassen. Sie brauchte Hilfe und Beistand.
    »Selbstverständlich, ein Zusammentreffen und weiter nichts …«, murmelte er. »Schon vergessen, und nichts ist gewesen. Später, irgendwann, wenn es Ihnen recht ist … passt … wäre ich Ihnen sehr verbunden, versteht sich … Gewiss, das passiert mir nicht zum ersten Mal, dass ich zu Beginn mit dem eigentlichen Objekt spreche, und dann erst … Maja Toivowna, soll ich vielleicht jemanden rufen? Ich werde sofort …«
    Sie schwieg.
    »Ist wohl auch nicht nötig, Sie haben Recht. Wozu auch? Ich bleibe noch eine Weile hier bei Ihnen … für alle Fälle.«
    Sie nahm endlich die Hand von den Augen. »Sie brauchen nicht bei mir zu bleiben«, sagte sie müde. »Gehen Sie lieber zu Ihrem Untersuchungsobjekt …«
    »Kommt nicht infrage!«, protestierte der Journalist Kammerer. »Das hat Zeit. Das Objekt, hm, das Objekt … Aber ich möchte Sie nicht allein lassen. Ich habe jede Menge Zeit …« Er schaute mit leichter Unruhe auf die Uhr. »Das Objekt läuft mir nicht mehr davon! Jetzt werde ich ihn finden. Und überhaupt wird er momentan wohl kaum zu Hause sein. Ich kenne doch die Progressoren auf Urlaub. Sicher schlendert er durch die Stadt und hängt sentimentalen Erinnerungen nach.«
    »Er ist nicht in der Stadt«, sagte Maja Toivowna, noch immer beherrscht. »Sie brauchen zwei Stunden Flug bis zu ihm.«

    »Zwei Stunden Flug?« Der Journalist Kammerer war unangenehm überrascht. »Verzeihung, aber ich hatte den Eindruck …«
    »Er ist auf den Waldaihöhen! Kurort ›Ossinuschka‹! Am Welje-See. Und denken Sie daran, dass der Null-Transport nicht funktioniert!«
    »Hm!«, ließ sich der Journalist Kammerer laut vernehmen. Eine zweistündige Flugreise war in seinem heutigen Tagesplan gewiss nicht vorgesehen. Man konnte sogar vermuten, dass er überhaupt gegen Flugreisen war.
    »Zwei Stunden«, murmelte er. »Aha, irgendwie hatte ich mir das ganz anders vorgestellt. Entschuldigen Sie bitte, Maja Toivowna, aber vielleicht ist er irgendwie von hier aus zu erreichen?«
    »Ja, wahrscheinlich«, sagte Maja Toivowna mit nun schon fast erloschener Stimme. »Ich weiß aber seine Nummer nicht. Hören Sie, Kammerer, lassen Sie mich allein. Ich kann Ihnen im Moment ja doch nicht weiterhelfen.«
    Erst jetzt erkannte der Journalist Kammerer vollends die Peinlichkeit seiner Lage. Er sprang auf und stürzte zur Tür. Hielt inne, kehrte noch einmal zum Tisch zurück. Murmelte unverständliche Entschuldigungen. Stürzte wieder zur Tür und warf dabei einen Sessel um. Hob ihn unter weiterem, sich entschuldigendem Gemurmel wieder auf und stellte ihn mit übergroßer Vorsicht an seinen Platz, als wäre er aus Kristall und Porzellan. Dann ging er unter zahlreichen Verbeugungen rückwärts zur Tür, schob sie mit dem Hintern auf und verschwand schließlich draußen im Gang.
    Ich schloss vorsichtig die Tür, blieb noch eine Weile stehen und rieb mir mit dem Handrücken über die verkrampften Gesichtsmuskeln. Aus Scham und Ekel vor mir selbst war mir übel.

2. JUNI’78
    »Ossinuschka«. Doktor Goannek
    Vom Ostufer aus erschien »Ossinuschka« wie eine verstreute Ansammlung weißer und roter Dächer, die im rotgrünen Dickicht der Ebereschen versanken. Es gab einen schmalen Streifen Strand sowie einen hölzernen Bootssteg, an den die vielen bunten Boote immer wieder anstießen. Auf dem ganzen sonnenüberfluteten Hang war kein Mensch zu sehen; nur auf dem Bootssteg selbst saß ein Mann in weißer Kleidung, mit herabhängenden nackten Beinen, vielleicht ein Angler; er saß ganz still, fast unbeweglich.
    Ich zog mich aus, warf meine Kleidungsstücke auf den Sitz und ließ mich leise ins Wasser gleiten. Es war sehr schön, das Wasser des Welje-Sees, klar und süß, das Schwimmen ein reines Vergnügen.
    Als ich den Bootssteg hochgeklettert war und auf einem Bein über die sonnenwarmen Bretter hüpfte, um Wasser aus dem Ohr zu schütteln, wandte der weiß angezogene Mann endlich seine Aufmerksamkeit von dem Schwimmer ab und sah mich über die Schulter hinweg an. Interessiert erkundigte er sich: »Und so kommen Sie den

Weitere Kostenlose Bücher