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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Prozent geringer geworden und das Leben um zwanzig Prozent teurer: das macht vierzig Prozent!» «Und ich versichere Ihnen, ein Sechstagerennen ist ein völkerverbindendes Ereignis!»: Diese Stimmen kamen dabei aus seinem Ohr; Kupeestimmen. Dann hörte er ganz deutlich sagen: «Trotzdem geht mir die Oper über alles!» «Das ist wohl ein Sport von Ihnen?» «Nein, eine Leidenschaft.» – Er bog den Kopf, als müßte er Wasser aus seinem Ohr schütteln: Der Zug war voll gewesen und die Reise lang; Tropfen allgemeinen Gesprächs, die während der Fahrt in ihn eingedrungen waren, quollen zurück. Ulrich hatte mitten in der Fröhlichkeit und Hast der Ankunft, die das Tor des Bahnhofs wie die Mündung eines Rohrs in die Ruhe des Platzes ausfließen ließ, gewartet, bis sie nur noch tropfenweise rann; nun stand er im Saugraum der Stille, die auf den Lärm folgt. Und zugleich mit der Unruhe seines Gehörs, die dadurch hervorgerufen wurde, fiel ihm eine ungewohnte Ruhe vor den Augen auf. Alles Sichtbare war darin stärker als sonst, und wenn er über den Platz blickte, so standen auf der anderen Seite ganz gewöhnliche Fensterkreuze so schwarz im Abendlicht auf bleichem Glasglanz, als wären sie die Kreuze von Golgatha. Auch was sich bewegte, löste sich vom Ruhenden der Straße in einer Weise los, wie es in sehr großen Städten nicht vorkommt. Treibendes wie Stehendes hatte hier offenbar Raum, seine Wichtigkeit zu weiten. Mit einiger Neugierde des Wiedersehens fand er das heraus und betrachtete die große Provinzstadt, in der er kleine, aber wenig angenehme Teile seines Lebens zugebracht hatte. In ihrem Wesen lag, wie er sehr wohl wußte, etwas Heimatlos-Koloniales: Ein ältester Kern deutschen Bürgertums der vor Jahrhunderten auf slawische Erde geraten war, war da verwittert, so daß außer einigen Kirchen und Familiennamen kaum noch etwas an ihn erinnerte, und auch vom alten Sitz der Landstände, den diese Stadt später abgegeben hatte, war außer einem erhalten gebliebenen schönen Palast wenig mehr zu sehen; aber über diese Vergangenheit hatte sich in der Zeit der absoluten Verwaltung das große Aufgebot einer kaiserlichen Statthalterei gelagert mit seinen Zentralämtern der Provinz, mit den Haupt- und Hochschulen, den Kasernen, Gerichten, Gefängnissen, dem Bischofssitz, der Redoute, dem Theater, allen Menschen, die dazugehörten, und den Kaufleuten und Handwerkern, die sie nach sich zogen, so daß sich schließlich auch noch eine Industrie zugewanderter Unternehmer anschloß, deren Fabriken Haus an Haus die Vorstädte füllten und das Schicksal dieses Stücks Erde in den letzten Menschenaltern stärker beeinflußt hatten als alles andere. Diese Stadt hatte eine Geschichte, und sie hatte auch ein Gesicht, aber darin paßten die Augen nicht zum Mund oder das Kinn nicht zu den Haaren, und über allem lagen die Spuren eines stark bewegten Lebens, das innerlich leer ist. Es mochte sein, daß dies unter besonderen persönlichen Umständen große Ungewöhnlichkeiten begünstigte.
    Um es mit einem Wort zu sagen, das ebensowenig einwandfrei ist: Ulrich fühlte etwas «seelisch Stoffloses», darin man sich so verlor, daß es die Neigung zu zügellosen Einbildungen erweckte. Er trug das sonderbare Telegramm seines Vaters in der Tasche und kannte es auswendig: «Setze dich von meinem erfolgten Ableben in Kenntnis» hatte der alte Herr ihm mitteilen lassen – oder sollte man sagen mitgeteilt? – und darin drückte sich das schon aus, denn darunter stand die Unterschrift «dein Vater». Se. Exzellenz, der Wirkliche Geheime Rat, scherzte nie in ernsten Augenblicken: der verschrobene Aufbau der Nachricht war darum auch verteufelt logisch, denn er war es selbst, der seinen Sohn benachrichtigte, wenn er in Erwartung seines Endes den Wortlaut niederschrieb oder jemand in die Feder sagte und die Geltung der so entstehenden Urkunde für den Augenblick nach seinem letzten Atemzug bestimmte; ja man konnte den Tatbestand vielleicht gar nicht richtiger ausdrücken, und doch flatterte von diesem Vorgang, worin die Gegenwart eine Zukunft zu beherrschen versuchte, die sie nicht mehr zu erleben vermochte, ein unheimlicher Leichenhauch zornig verwesten Willens zurück!
    Bei diesem Verhalten, das ihn durch irgendeinen Zusammenhang auch an den geradezu sorgfältig unausgewogenen Geschmack kleiner Städte erinnerte, dachte Ulrich nicht ohne Besorgnis an seine in der Provinz verheiratete Schwester, der er nun wohl in wenigen Minuten begegnen

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