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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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denen viele Gefühle Platz finden, die nirgends recht zu Hause sind.
    Und während er von solchen Fragen beschäftigt wurde, war Ulrich langsam in die fremd vertraute Stadt hineingegangen, die sich vor ihm auftat. Er ließ einen Wagen mit seinem Gepäck, unter das er im letzten Augenblick vor der Abreise noch ziemlich viel Bücher getan hatte, und mit dem alten Diener folgen, der, schon zu seinen Kindheitserinnerungen gehörend, ihn abgeholt hatte und das Hausmeister- mit dem Hausmeier- und dem Universitätsdieneramt in einer Art vereinte, über deren innere Grenzen mit den Jahren Ungenauigkeit gekommen war. Wahrscheinlich war es dieser bescheiden-verschlossene Mann, dem Ulrichs Vater die Todesdepesche in die Feder gesagt hatte, und Ulrichs Füße gingen verwundert angenehm den Weg, der sie nach Hause führte, während seine Sinne jetzt wach und neugierig die frischen Eindrücke aufnahmen, mit denen jede wachsende Stadt überrascht, wenn man sie lange nicht gesehen hat. An einer bestimmten Stelle, deren sie sich früher entsannen als er, bogen Ulrichs Füße mit ihm vom Hauptweg ab, und er fand sich dann nach kurzer Zeit in einer schmalen, nur von zwei Gartenmauern gebildeten Gasse. Schräg stand dem Kommenden das knapp zweistöckige Haus mit dem höheren Mittelbau gegenüber, den alten Pferdestall zur Seite, und, noch immer an die Mauer des Gartens gedrückt, stand das kleine Häuschen, wo der Diener mit seiner Frau wohnte; es sah aus, als hätte sie trotz allen Vertrauens der ganz Alte möglichst weit von sich fortgeschoben und sie doch mit seinen Mauern umspannt. Ulrich war in Gedanken an den verschlossenen Garteneingang gelangt und hatte den großen Klopfring, der dort statt einer Glocke an der niederen, altersgeschwärzten Tür hing, aufschlagen lassen, ehe sein Begleiter gelaufen kam und den Irrtum berichtigte. Sie mußten um die Mauer zum Vordereingang zurück, wo der Wagen hielt, und erst da, in dem Augenblick, wo er die ungeöffnete Fläche des Hauses vor sich sah, fiel es Ulrich auf, daß ihn seine Schwester nicht vom Bahnhof abgeholt hatte. Der Diener meldete ihm, daß die gnädige Frau Migräne gehabt und sich nach Tisch zurückgezogen hätte, mit dem Auftrag, sie zu wecken, wenn der Herr Doktor käme. Ob seine Schwester öfters Migräne habe, fuhr Ulrich fort zu fragen und bereute sogleich diese Ungeschicklichkeit, die seine Fremdheit vor dem alten Vertrauten des väterlichen Hauses bloßstellte und an Familienbeziehungen rührte, über die man besser schwieg. «Die gnädige junge Frau hat Auftrag gegeben, in einer halben Stunde den Tee zu servieren» erwiderte wohlerzogen der Alte mit einem höflich blinden Dienergesicht, das in behutsamer Weise die Versicherung abgab, er verstünde nichts, was über seine Pflicht hinausgehe.
    Unwillkürlich blickte Ulrich zu den Fenstern hinauf, in der Vermutung, es könnte Agathe dahinter stehn und sein Kommen mustern. Ob sie wohl angenehm sei, fragte er sich und stellte unbehaglich fest, daß der Aufenthalt recht mißlich sein werde, wenn sie ihm nicht gefalle. Daß sie weder zur Bahn, noch ans Haustor kam, erschien ihm allerdings als ein vertrauenerweckender Zug, und es zeigte sich darin eine gewisse Verwandtschaft des Empfindens, denn genau genommen, wäre es ebenso unbegründet gewesen, ihm entgegenzueilen, wie wenn er selbst, kaum angekommen, an die Bahre seines Vater hätte stürzen wollen. Er ließ sagen, daß er in einer halben Stunde bereit sein werde, und brachte sich ein wenig in Ordnung. Das Zimmer, worin er untergekommen war, lag im mansardenartigen zweiten Stockwerk des Mittelbaus und war sein Kinderzimmer gewesen, jetzt wunderlich ergänzt um einige offenbar nur zusammengeraffte Einrichtungsstücke, die zur Bequemlichkeit von Erwachsenen gehören. «Wahrscheinlich läßt es sich nicht anders ordnen, solange der Tote im Hause ist» dachte Ulrich und richtete sich auf den Trümmern seiner Kindheit nicht ohne Schwierigkeit ein, doch auch mit ein wenig angenehmen Gefühls, das wie Nebel aus diesem Boden aufstieg. Er wollte die Kleidung wechseln, und dabei kam ihm der Einfall, einen pyjamaartigen Hausanzug anzulegen, der ihm beim Auspacken in die Hände fiel. «Sie hätte mich doch wenigstens in der Wohnung gleich begrüßen sollen!» dachte er, und es lag ein wenig Zurechtweisung in der unbekümmerten Wahl dieses Kleidungsstücks, obwohl das Gefühl, seine Schwester werde schon irgendeinen Grund für ihr Verhalten haben, der ihm gefallen könne, auch

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