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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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erhalten blieb und dem Umkleiden etwas von der Höflichkeit verlieh, die in dem zwanglosen Ausdruck des Vertrauens hegt.
    Es war ein großer, weichwolliger Pyjama, den er anzog, beinahe eine Art Pierrotkleid, schwarz-grau gewürfelt und an den Händen und Füßen ebenso gebunden wie in der Mitte; er liebte ihn wegen seiner Bequemlichkeit, die er nach der durchwachten Nacht und der langen Reise angenehm fühlte, während er die Treppe hinabstieg. Aber als er das Zimmer betrat, wo ihn seine Schwester erwartete, wunderte er sich sehr über seinen Aufzug, denn er fand sich durch geheime Anordnung des Zufalls einem großen, blonden, in zarte graue und rostbraune Streifen und Würfel gehüllten Pierrot gegenüber, der auf den ersten Blick ganz ähnlich aussah wie er selbst.
    «Ich habe nicht gewußt, daß wir Zwillinge sind!» sagte Agathe, und ihr Gesicht leuchtete erheitert auf.
    [◁]
2
    Vertrauen
    Sie hatten sich nicht zum Willkommen geküßt, sondern standen bloß freundlich voreinander, wechselten dann die Stellung, und Ulrich konnte seine Schwester betrachten. Sie paßten in der Größe zusammen. Agathes Haar war heller als seines, aber von der gleichen duftigen Trockenheit der Haut, die er als das einzige an seinem eigenen Körper liebte. Ihre Brust ging nicht in Brüsten verloren, sondern war schlank und kräftig, und die Glieder seiner Schwester schienen die lang-schmale Spindelform zu haben, die natürliche Leistungsfähigkeit mit Schönheit vereint.
    «Ich hoffe, deine Migräne ist vorüber, man merkt nichts mehr von ihr» sagte Ulrich.
    «Ich hatte gar nicht Migräne, ich habe dir das nur der Einfachheit halber sagen lassen,» erklärte sie «weil ich dir doch durch den Diener nicht gut eine verwickeltere Mitteilung zukommen lassen konnte: ich war einfach faul. Ich habe geschlafen. Ich habe mir hier angewöhnt, in jeder freien Minute zu schlafen. Ich bin überhaupt faul; ich glaube, aus Verzweiflung. Und als ich die Nachricht empfing, daß du kämst, sagte ich mir: Hoffentlich werde ich jetzt zum letzten Mal schläfrig sein, und da gab ich mich einer Art Genesungsschlaf hin: Für den Gebrauch des Dieners habe ich alles das nach sorgfältiger Überlegung Migräne genannt.»
    «Du treibst gar keinen Sport?» fragte Ulrich.
    «Ein wenig Tennis. Aber ich verabscheue Sport.»
    Er betrachtete, während sie sprach, noch einmal ihr Gesicht. Es kam ihm nicht sehr ähnlich dem seinen vor; aber vielleicht irrte er, es mochte ihm ähnlich sein wie ein Pastell einem Holzschnitt, so daß man über der Verschiedenheit des Materials das Übereinstimmende der Linien- und Flächenführung übersah. Dieses Gesicht beunruhigte ihn durch irgend etwas. Nach einer Weile kam er darauf, daß er einfach nicht erkennen konnte, was es ausdrücke. Es fehlte darin das, was die gewöhnlichen Schlüsse auf die Person erlaubt. Es war ein inhaltsvolles Gesicht, aber nirgends war darin etwas unterstrichen und in der geläufigen Weise zu Charakterzügen zusammengefaßt.
    «Wie kommt es, daß du dich auch so angezogen hast?» fragte Ulrich.
    «Ich habe es mir nicht klar gemacht» erwiderte Agathe. «Ich dachte, daß es nett sei.»
    «Es ist sehr nett!» meinte Ulrich lachend. «Aber geradezu ein Taschenspielerstück des Zufalls! Und Vaters Tod hat auch dich, wie ich sehe, nicht sehr erschüttert?»
    Agathe hob langsam ihren Körper auf die Fußspitzen und ließ ihn ebenso wieder sinken.
    «Ist dein Mann auch schon hier?» fragte ihr Bruder, um etwas zu sagen.
    «Professor Hagauer kommt erst zum Begräbnis.» – Sie schien sich der Gelegenheit zu erfreuen, den Namen so förmlich aussprechen und von sich wegstellen zu können wie etwas Fremdes.
    Ulrich wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. «Ja, das habe ich gehört» sagte er.
    Sie sahen einander wieder an, und dann gingen sie, wie es die sittliche Gewohnheit nahelegt, in das kleine Zimmer, wo sich der Tote befand.
    Den ganzen Tag schon war dieses Zimmer künstlich verfinstert gewesen; es war satt von Schwarz. Blumen und brennende Kerzen leuchteten und rochen darin. Die zwei Pierrots standen hochaufgerichtet vor dem Toten und schienen ihm zuzusehn.
    «Ich werde nicht mehr zu Hagauer zurückkehren!» sagte Agathe, damit es gesagt sei. Man konnte fast auf den Gedanken kommen, daß es auch der Tote hören solle.
    Der lag auf seinem Sockel, wie er es angeordnet hatte: im Frack, das Bahrtuch bis zur halben Höhe der Brust, darüber das steife Hemd hervorkam, die Hände gefaltet ohne Kruzifix,

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