Gesammelte Werke
nun geweckt, obgleich er das ungern sah; denn es war wie die Wirkung eines Erregungsmittels, das die äußeren Affekte in Bewegung bringt, während die inneren doch noch ganz unberührt blieben. Er lenkte das Gespräch ab und suchte zögernd einen Überblick. «Ich habe einiges von ihm gelesen und gehört» sagte er; «soviel ich weiß, gilt er im Gebiet des Unterrichts und der Erziehung sogar als ein kommender Mann!»
«Ja, das tut er» erwiderte Agathe.
«Soweit ich seine Schriften kenne, ist er nicht nur ein in allen Sätteln gerechter Schulmeister, sondern ist auch frühzeitig für eine Reform unserer höheren Lehranstalten eingetreten. Ich erinnere mich, einmal ein Buch von ihm gelesen zu haben, worin einerseits von dem unersetzlichen Wert des historisch-humanistischen Unterrichts für die sittliche Bildung die Rede war und ebenso andererseits von dem unersetzlichen Wert naturwissenschaftlich-mathematischen Unterrichts für die geistige Bildung und drittens von dem unersetzlichen Wert, den das geballte Lebensgefühl des Sports und der militärischen Erziehung für die Bildung zur Tat hat. Stimmt das?»
«Das wird wohl stimmen» meinte Agathe; «aber hast du beobachtet, wie er zitiert?»
«Wie er zitiert? Warte: mir ist dunkel, daß mir wirklich etwas aufgefallen ist. Er zitiert sehr viel. Er zitiert die alten Meister. Er – natürlich zitiert er auch die Gegenwärtigen, und jetzt weiß ich es: er zitiert in einer für einen Schulmeister geradezu revolutionären Weise nicht nur die Schulgrößen, sondern auch die Flugzeugerbauer, Politiker und Künstler des Tags ... Aber das ist schließlich doch nur das, was ich schon vorhin gesagt habe ...?» endete er mit dem kleinlauten Abschlußgefühl, womit eine Erinnerung, die ihr Geleise verfehlt hat, auf den Prellbock auffährt.
«Er zitiert so,» ergänzte Agathe «daß er beispielsweise in der Musik bedenkenlos bis zu Richard Strauß oder in der Malerei bis zu Picasso gehen wird; niemals aber wird er, und sei es auch nur als das Beispiel von etwas Falschem, einen Namen nennen, der sich nicht schon ein gewisses Hausrecht in den Zeitungen zumindest dadurch erworben hat, daß sie sich tadelnd mit ihm beschäftigen!»
So war es. Das hatte Ulrich in seiner Erinnerung gesucht. Er blickte auf. Agathens Antwort erfreute ihn durch den Geschmack und die Beobachtung, die sich in ihr aussprachen. «So ist er mit der Zeit ein Führer geworden, indem er als einer der ersten hinter ihr drein ging» ergänzte er lachend. «Alle, die noch später kommen, sehen ihn schon vor sich! Aber liebst du denn unsere Ersten?»
«Ich weiß nicht. Jedenfalls zitiere ich nicht.»
«Immerhin, laß uns bescheiden sein» meinte Ulrich. «Der Name deines Gatten bedeutet ein Programm, das heute schon vielen als das Höchste gilt. Sein Wirken stellt einen soliden kleinen Fortschritt dar. Sein äußerer Aufstieg kann nicht mehr lange säumen. Aus ihm wird über kurz oder lang mindestens ein Universitätsprofessor werden, obgleich er sich mit seinem Brotberuf als Mittelschullehrer geschleppt hat; und ich, siehst du, der ich gar nichts anderes zu tun hatte, als was auf meinem geraden Weg lag, bin heute so weit, daß es wahrscheinlich nicht einmal zur Dozentur bei mir kommt: Das ist schon etwas!»
Agathe war enttäuscht, und wahrscheinlich war das die Ursache davon, daß ihr Gesicht den porzellanenen und nichtssagenden Ausdruck einer Dame annahm, während sie liebenswürdig erwiderte: «Ich weiß nicht, vielleicht hast du auf Hagauer Rücksicht zu nehmen?»
«Wann soll er eintreffen?» fragte Ulrich.
«Erst zum Begräbnis; mehr Zeit nimmt er sich nicht. Aber keinesfalls soll er hier im Haus wohnen, das gestatte ich nicht!»
«Wie du willst!» entschied sich Ulrich unerwartet. «Ich werde ihn abholen und vor einem Hotel absetzen. Und dort werde ich ihm also, wenn du es wünschest, sagen: ‹Das Zimmer für Sie ist hier gesattelt!›»)
Agathe war überrascht und plötzlich begeistert. «Das wird ihn furchtbar ärgern, weil es Geld kostet, und er erwartet sicher, bei uns wohnen zu können!» Ihr Gesicht hatte sich augenblicklich geändert und etwas kindlich Wildes zurückgewonnen wie bei einem Bubenstück.
«Wie ist denn alles geregelt?» fragte ihr Bruder. «Gehört dieses Haus dir, mir oder uns beiden? Ist ein Testament da?»
«Papa hat mir ein großes Paket übergeben lassen, worin alles stehen soll, was wir wissen müssen.» – Sie gingen in das Arbeitszimmer, das zur anderen Seite des
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