Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
steckenden Beinen, etwas wulstigen Lippen unter einem borstigen Schnurrbart und einer Liebhaberei für großgemusterte Krawatten, die wohl anzeigen sollte, daß er kein gewöhnlicher, sondern ein zukunftswilliger Schulmeister sei. Ulrich fühlte wieder sein altes Mißtrauen gegen Agathes Wahl erwachen, aber daß dieser Mann geheime Laster verbergen sollte, war ganz auszuschließen, wenn man sich an das offene Leuchten erinnerte, das von Stirn und Augen Gottlieb Hagauers glänzte. «Das ist doch einfach der aufgeklärte tüchtige Mensch, der Brave, der die Menschheit auf seinem Felde fördert, ohne sich in Dinge zu mischen, die ihm ferne liegen» stellte Ulrich fest, wobei er sich auch an die Schriften Hagauers wieder erinnerte, und versank in nicht ganz angenehme Gedanken.
    Man kann solche Menschen schon ursprünglich in ihrer Schülerzeit kennzeichnen. Sie lernen weniger – wie man es, die Folge mit der Ursache verwechselnd, benennt – gewissenhaft als ordentlich und praktisch. Sie legen sich jede Aufgabe vorerst zurecht, wie man sich abends die Kleidung des nächsten Tags bis auf die Knöpfe zurechtlegen muß, wenn man morgens rasch und ohne Fehlgriff fertig werden will; es gibt keinen Gedankengang, den sie nicht mittels fünf bis zehn solcher vorbereiteten Knöpfe fest in ihr Verständnis heften könnten, und man muß einräumen, daß dieses sich danach sehen lassen kann und der Untersuchung standhält. Sie werden dadurch Vorzugsschüler, ohne ihren Kameraden moralisch unangenehm zu sein, und Menschen, die wie Ulrich von ihrem Wesen bald zu einem leichten Übermaß, bald zu einem ebenso geringfügigen Untermaß verleitet werden, bleiben auf eine Weise, die so leise schleicht wie das Schicksal, hinter ihnen zurück, auch wenn sie viel begabter sind. Er bemerkte, daß er vor dieser Vorzugsart Menschen eigentlich eine geheime Scheu habe, denn ihre gedankliche Genauigkeit ließ seine eigene Schwärmerei für Genauigkeit ein wenig windig erscheinen. «Sie haben nicht die Spur von Seele» dachte er «und sind gutmütige Menschen; nach dem sechzehnten Jahr, wenn sich die jungen Leute für geistige Fragen erhitzen, bleiben sie scheinbar hinter den anderen ein wenig zurück und haben nicht recht die Fähigkeit, neue Gedanken und Gefühle zu verstehn, aber sie arbeiten auch da mit ihren zehn Knöpfen, und es kommt der Tag, wo sie sich darüber ausweisen können, daß sie immer alles verstanden haben, ‹freilich ohne alle unhaltbaren Extreme›, und schließlich sind sie es noch, die den neuen Ideen Eingang ins Leben verschaffen, wenn diese für andere längst verklungene Jugend geworden sind oder einsame Übertreibung!» So konnte sich Ulrich, als seine Schwester wieder eintrat, zwar noch immer nicht vorstellen, was ihr eigentlich begegnet sein mochte, aber er fühlte, daß ein Kampf gegen ihren Mann, und sei es selbst ein ungerechter, etwas wäre, das eine ganz nichtswürdige Neigung besäße, ihm Vergnügen zu bereiten.
    Agathe schien es für aussichtslos zu halten, ihren Entschluß vernünftig zu erklären. Ihre Ehe befand sich, was man von einem Charakter wie Hagauer auch nicht anders erwarten durfte, in vollkommenster äußerer Ordnung. Kein Streit, kaum Meinungsverschiedenheiten; schon deshalb nicht, weil Agathe, wie sie erzählte, ihre eigene Meinung in keiner Frage ihm anvertraute. Natürlich keine Exzesse, nicht Trunk, noch Spiel. Nicht einmal Junggesellengewohnheiten. Gerechte Verteilung der Einkommen. Geordnete Wirtschaft. Ruhiger Ablauf von geselligem Beisammensein zu vielen und ungeselligem zu zweit. «Wenn du ihn also einfach grundlos verläßt,» sagte Ulrich «wird die Ehe auf dein Verschulden geschieden werden; vorausgesetzt, daß er klagt.»
    «Er soll klagen!» verlangte Agathe.
    «Vielleicht wäre es gut, ihm einen kleinen Vermögensvorteil einzuräumen, wenn er in eine einvernehmliche Lösung willigt?»
    «Ich habe nur das mit mir genommen,» erwiderte sie «was man für eine dreiwöchige Reise braucht, und außerdem ein paar kindische Dinge und Erinnerungen aus der Zeit vor Hagauer. Alles andere soll er zurückbehalten, ich mag es nicht. Aber er soll nicht den kleinsten Vorteil in Zukunft von mir haben!»
    Diese Sätze rief sie wieder überraschend heftig aus. Man konnte es vielleicht so verstehen, daß Agathe sich dafür rächen wolle, diesem Mann in früherer Zeit zuviel Vorteile eingeräumt zu haben. Ulrichs Kampflust, sein Sportsinn, seine Erfindungsgabe im Überwinden von Schwierigkeiten wurden

Weitere Kostenlose Bücher