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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Toten lag.
    Sie glitten wieder durch Kerzenglanz, Blumenduft, durch den Kreis dieser zwei Augen, die nichts mehr sahen. In dem flackernden Halbdunkel war Agathe für eine Sekunde nur ein schimmernder Nebel von Gold, Grau und Rosa. Das Testament fand sich vor, aber sie kehrten mit den Papieren zu ihrem Teetisch zurück, wo sie das Schriftpaket dann zu öffnen vergaßen.
    Denn als sie sich niederließen, teilte Agathe ihrem Bruder mit, daß sie so gut wie getrennt von ihrem Mann lebe, wenn auch unter dem gleichen Dach; sie sagte nicht, wie lange es schon so sei.
    Es machte zunächst einen schlechten Eindruck auf Ulrich. Wenn verheiratete Frauen glauben, daß ein Mann ihr Geliebter werden könnte, pflegen viele von ihnen ihm dieses Märchen anzuvertraun; und obgleich seine Schwester ihre Mitteilung verlegen, ja eigentlich verstockt vorgebracht hatte, mit einem ungeschickten Entschluß, irgend einen Anstoß zu geben, was man deutlich hindurchfühlte, verdroß es ihn, daß ihr nichts Besseres ihm aufzubinden eingefallen sei, und er hielt es für eine Übertreibung. «Ich habe überhaupt nie begriffen, wie du mit einem solchen Mann hast leben können!» entgegnete er offen.
    Agathe meinte, daß der Vater es gewollt habe; und was sie dagegen hätte tun sollen, fragte sie.
    «Aber du warst doch damals schon Witwe und keine unmündige Jungfrau!»
    «Gerade darum. Ich war zu Papa zurückgekehrt; allgemein sagte man damals, ich sei noch zu jung, um schon allein zu leben, denn wenn ich auch Witwe war, so war ich doch erst neunzehn Jahre alt; und dann habe ich es eben hier nicht ausgehalten.»
    «Aber warum hast du dir nicht einen anderen Mann gesucht? Oder studiert, und auf diese Weise ein selbständiges Leben begonnen?» fragte Ulrich rücksichtslos.
    Agathe schüttelte bloß den Kopf. Erst nach einer kleinen Pause antwortete sie: «Ich habe dir schon gesagt, daß ich faul bin.»
    Ulrich fühlte, daß es keine Antwort war. «Du hast also einen besonderen Grund gehabt, Hagauer zu heiraten!?»
    «Ja.»
    «Du hast einen anderen geliebt, den du nicht bekommen konntest?»
    Agathe zögerte. «Ich habe meinen verstorbenen Mann geliebt.»
    Ulrich bedauerte, daß er das Wort Liebe so gewöhnlich gebraucht hatte, als hielte er die Wichtigkeit der gesellschaftlichen Einrichtung, die es bezeichnet, für unverbrüchlich. «Wenn man Trost spenden will, schöpft man doch sofort eine Bettelsuppe!» dachte er. Trotzdem fühlte er sich versucht, in der gleichen Weise weiterzureden. «Und dann hast du bemerkt, was dir widerfahren ist, und hast Hagauer Schwierigkeiten bereitet» meinte er.
    «Ja» bestätigte Agathe. «Aber nicht gleich; – erst spät» fügte sie hinzu. «Sehr spät sogar.»
    Hier gerieten sie ein klein wenig in Streit.
    Es war zu sehen, daß diese Geständnisse Agathe Überwindung kosteten, obgleich sie sie aus freien Stücken darbrachte und offenbar, wie es ihrem Alter entsprach, in der Gestaltung des Geschlechtslebens einen wichtigen Gesprächsstoff für jedermann sah. Sie schien es gleich beim ersten Mal auf Verständnis oder Unverständnis ankommen lassen zu wollen, suchte Vertrauen und war nicht ohne Freimut und Leidenschaft entschlossen, sich den Bruder zu erobern. Aber Ulrich, noch immer moralisch in Geberlaune, vermochte nicht, ihr sofort entgegenzukommen. Er war trotz der Kraft seiner Seele keineswegs immer frei von den Vorurteilen, die sein Geist verwarf, da er zu oft sein Leben hatte gehen lassen, wie es wollte, und seinen Geist anders. Und weil er seinen Einfluß auf Frauen zu oft mit der Lust eines Jägers am Fangen und Beobachten ausgenutzt und mißbraucht hatte, war ihm fast immer auch das dazugehörende Bild begegnet, worin die Frau das Wild ist, das unter dem Liebesspeer des Mannes zusammenbricht, und es saß ihm die Wollust der Demütigung im Gedächtnis, der sich die liebende Frau unterwirft, während der Mann von einer ähnlichen Hingabe weit entfernt ist. Diese männliche Machtvorstellung von der weiblichen Schwäche ist heute noch recht gewöhnlich, obwohl mit den einander folgenden Wellen der Jugend daneben neuere Auffassungen entstanden sind, und die Natürlichkeit, mit der Agathe ihre Abhängigkeit von Hagauer behandelte, verletzte ihren Bruder. Es kam Ulrich vor, seine Schwester habe eine Schmach erlitten, ohne sich ihrer recht bewußt zu sein, als sie sich unter den Einfluß eines Mannes begab, der ihm mißfiel, und durch Jahre darunter verharrte. Er sprach es nicht aus, aber Agathe mußte wohl etwas

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