Gesammelte Werke
Abendbrot übergegangen, weil Ulrich übermüdet war und darum gebeten hatte, denn er wollte früh zu Bett gehn, um sich für den nächsten Tag auszuschlafen, der allerhand geschäftliche Unruhe versprach. Nun rauchten sie ihre Zigaretten, ehe sie sich trennten, und er kannte sich in seiner Schwester nicht aus. Sie hatte weder etwas Emanzipiertes, noch etwas Bohemehaftes an sich, obgleich sie da in weiten Hosen saß, in denen sie den unbekannten Bruder empfangen hatte. Eher etwas Hermaphroditisches, so kam ihm jetzt vor; das leichte männliche Kleid ließ in der Bewegung des Gesprächs mit der Halbdurchsichtigkeit eines Wasserspiegels die zärtliche Formung ahnen, die sich darunter befand, und zu den frei-unabhängigen Beinen trug sie das schöne Haar frauenhaft aufgesteckt. Das Zentrum dieses zwiespältigen Eindrucks bildete aber noch immer das Gesicht, das den Reiz der Frau in hohem Maße besaß, doch mit irgendeinem Abstrich und Vorbehalt, dessen Wesen er nicht herausbekommen konnte.
Und daß er so wenig von ihr wußte und so vertraut mit ihr saß, und doch auch ganz anders als mit einer Frau, für die er ein Mann wäre, das war etwas sehr Angenehmes, in der Müdigkeit, der er nun nachzugeben begann.
«Eine große Veränderung seit gestern!» dachte er.
Er war dankbar dafür und bemühte sich, Agathe zum Abschied etwas herzlich Brüderliches zu sagen, aber da ihm das etwas Ungewohntes war, fiel ihm nichts ein. So nahm er sie bloß in den Arm und küßte sie.
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3
Morgen in einem Trauerhaus
Am nächsten Morgen fuhr Ulrich früh und so glatt aus dem Schlaf, wie ein Fisch aus dem Wasser schnellt; es war eine Folge der traumlos und restlos ausgeschlafenen Müdigkeit des vergangenen Tags. Er suchte sich ein Frühstück zu verschaffen und ging dazu durch das Haus. Die Trauer darin war noch nicht recht in Betrieb, und bloß ein Duft von Trauer hing in allen Räumen: es erinnerte ihn an ein Geschäft, das seine Läden in der Morgenfrühe geöffnet hat, während die Straße noch menschenleer ist. Dann holte er seine wissenschaftliche Arbeit aus dem Koffer und begab sich mit ihr in das Arbeitszimmer seines Vaters. Es sah, als er mitten darin saß und ein Feuer im Ofen brannte, menschlicher aus als am Abend vorher: obgleich ein pedantischer, Einerseits und Anderseits auswägender Geist es ausgebaut hatte bis zu den symmetrisch einander gegenüberstehenden Gipsbüsten auf der Höhe der Büchergestelle, gaben die vielen liegengebliebenen, kleinen persönlichen Dinge – Bleistifte, Augenglas, Thermometer, ein aufgeschlagenes Buch, Federbüchschen und dergleichen mehr – dem Raum doch die rührende Leere eines eben erst verlassenen Lebensgehäuses. Ulrich saß mitten darin, zwar in der Nähe des Fensters, aber am Schreibtisch, der den Orgelpunkt dieses Raumes bildete, und empfand eine eigentümliche Willensmüdigkeit. An den Wänden hingen Bildnisse seiner Voreltern, und ein Teil der Möbel stammte noch aus ihrer Zeit; der hier gewohnt hatte, hatte aus den Schalen ihres Lebens das Ei des seinen geformt: nun war er tot, und sein Hausrat stand noch so scharf da, als wäre er aus dem Raum herausgefeilt worden, aber schon war die Ordnung bereit abzubröckeln, sich dem Nachfolger zu fügen, und man fühlte, wie die größere Lebensdauer der Dinge kaum sichtbar hinter ihrer starren Trauermiene neu zu quellen begann.
In dieser Stimmung schlug Ulrich seine Arbeit auf, die er vor Wochen und Monaten unterbrochen hatte, und sein Blick fiel gleich zu Beginn auf die Stelle mit den physikalischen Gleichungen des Wassers, über die er nicht hinausgekommen war. Er erinnerte sich dunkel, daß er an Clarisse gedacht hatte, als er aus den drei Hauptzuständen des Wassers ein Beispiel gemacht hatte, um an ihm eine neue mathematische Möglichkeit zu zeigen; und Clarisse hatte ihn dann davon abgelenkt. Doch gibt es ein Erinnern, das nicht das Wort, sondern die Luft, worin es gesprochen worden, zurückruft, und so dachte Ulrich auf einmal: «Kohlenstoff ...» und bekam gleichsam aus dem Nichts heraus den Eindruck, es würde ihn weiterbringen, wenn er augenblicklich bloß wüßte, in wieviel Zuständen Kohlenstoff vorkomme; aber es fiel ihm nicht ein, und er dachte statt dessen: «Der Mensch kommt in zweien vor. Als Mann und als Frau.» Das dachte er eine ganze Weile, scheinbar reglos vor Staunen, als ob es Wunder was für eine Entdeckung bedeutete, daß der Mensch in zwei verschiedenen Dauerzuständen lebe. Nur verbarg sich unter diesem
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