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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Ähnliches in seinem Gesicht gelesen haben, denn sie sagte plötzlich: «Ich konnte ihm doch nicht gleich davonlaufen, wenn ich ihn schon geheiratet hatte; das wäre überspannt gewesen!»
    Ulrich – immer der Ulrich im Zustand des älteren Bruders und spendend-erzieherischer Begriffsverarmung – wurde heftig hochgerissen und rief aus: «Wäre es wirklich überspannt, Abscheu zu erleiden und daraus sofort alle Folgerungen zu ziehen?!» Er suchte es zu mildern, indem er hinterdrein lächelte und seine Schwester so freundlich wie möglich ansah.
    Auch Agathe sah ihn an; ihr Gesicht war ganz geöffnet von dieser Anstrengung, mit der sie in seinen Zügen forschte. «Ein gesunder Mensch ist Peinlichkeiten gegenüber doch nicht so empfindlich?!» wiederholte sie. «Was liegt schließlich daran!»
    Das hatte zur Folge, daß sich Ulrich zusammennahm und seine Gedanken nicht länger einem Teil-Ich überlassen wollte. Er war jetzt wieder der Mann des funktionalen Verstehens. «Du hast recht,» sagte er «was liegt schließlich an den Vorgängen als solchen! Es kommt auf das System von Vorstellungen an, durch das man sie betrachtet, und auf das persönliche System, in das sie eingefügt sind.»
    «Wie sagst du das?» fragte Agathe mißtrauisch.
    Ulrich entschuldigte sich für seine abstrakte Ausdrucksweise, aber während er nach einem leicht eingänglichen Vergleich suchte, kehrte seine brüderliche Eifersucht wieder und beeinflußte seine Wahl: «Nehmen wir an, daß eine Frau, die uns nicht gleichgültig ist, vergewaltigt worden sei» erklärte er. «Nach einem heroischen Vorstellungssystem müßten wir dann Rache oder Selbstmord erwarten; nach einem zynisch-empirischen, daß sie es abschüttle wie eine Henne; und was sich heute wirklich vollzöge, wäre wohl ein Gemisch aus beidem: diese innere Unwissenheit ist aber häßlicher als alles.»
    Aber Agathe war auch mit dieser Fragestellung nicht einverstanden. «Kommt es dir denn so schrecklich vor?» fragte sie einfach.
    «Ich weiß nicht. Es schien mir, daß es demütigend sei, mit einem Menschen zu leben, den man nicht liebt. Aber jetzt – wie du willst!»
    «Ist es schlimmer als wenn eine Frau, die sich eher als drei Monate nach ihrer Scheidung wieder verheiraten will, im Auftrag des Staats vom Amtsarzt an der Gebärmutter untersucht wird, aus Gründen des Erbrechts, ob sie schwanger sei? Daß es das gibt, habe ich gelesen!» Agathes Stirn schien sich im Zorn der Verteidigung zu runden und hatte wieder die kleine lotrechte Falte zwischen den Augenbrauen. «Und darüber kommt jede hinweg, wenn es sein muß!» sagte sie verächtlich.
    «Ich widerspreche dir nicht» entgegnete Ulrich; «alle Geschehnisse gehen, wenn sie einmal wirklich da sind, vorbei wie Regen und Sonnenschein. Wahrscheinlich bist du viel vernünftiger als ich, wenn du das natürlich ansiehst; aber die Natur des Mannes ist nicht natürlich, sondern naturändernd und darum manchmal überspannt.» Sein Lächeln bat um Freundschaft, und sein Auge sah, wie jung ihr Gesicht war. Wenn es sich erregte, bekam es fast keine Falten, sondern wurde von dem, was dahinter vorging, zu noch größerer Glätte gespannt, wie ein Handschuh, in dem sich die Faust ballt.
    «Ich habe nie so allgemein darüber nachgedacht» erwiderte sie jetzt. «Aber nachdem ich dich gehört habe, kommt wieder mir vor, daß ich schrecklich im Unrecht gelebt habe!»
    «Alles rührt nur davon her,» beglich ihr Bruder scherzend dieses gegenseitige Schuldbekenntnis «daß du mir schon so viel freiwillig gesagt hast, und doch nicht das Entscheidende. Wie soll ich das Richtige treffen, wenn du mir nichts von dem Mann anvertraust, wegen dessen du Hagauer endlich doch verläßt!»
    Agathe sah ihn wie ein Kind an oder wie ein Student, der von seinem Erzieher gekränkt wird: «Muß es denn ein Mann sein?! Kann es nicht von selbst kommen? Habe ich etwas schlecht gemacht, weil ich ohne Liebhaber durchgegangen bin? Ich würde dich vielleicht anlügen, wenn ich behaupten wollte, daß ich nie einen gehabt habe; so lächerlich will ich auch nicht sein: aber ich habe keinen und würde es dir verübeln, wenn du glaubtest, daß ich durchaus einen brauche, um von Hagauer zu gehn!»
    Ihrem Bruder blieb nichts übrig, als ihr zu versichern, daß leidenschaftliche Frauen ihren Männern auch ohne Liebhaber durchgehn und daß seiner Meinung nach das sogar das Würdigere sei. – Der Tee, zu dem sie sich getroffen hatten, war in ein unregelmäßiges und vorzeitiges

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