Gesammelte Werke
nachgiebige Regung vor dem Ende, noch dazu bloß ein Gefühl und kein wissenschaftlicher Widerruf, hatte natürlich gar keine Beweiskraft gegenüber den Erfahrungen eines jahrelangen Streites und sollte, wie Schwung es ansah, ganz schamlos bloß dazu dienen, ihn bei der Ausnutzung des Sieges ins Unrecht zu setzen. Ganz etwas anderes war es natürlich, daß Professor Schwung das Bedürfnis hatte, von seinem toten Freund Abschied zu nehmen. Mein Gott, man kannte sich schon, seit man Dozent und noch unverheiratet war! Erinnerst du dich, wie wir im Burggarten der Abendsonne zutranken und über Hegel disputierten; Wieviel Sonnen mögen seither untergegangen sein, aber ich erinnere mich besonders an diese! Und erinnerst du dich an unseren ersten wissenschaftlichen Streit, der uns beinahe schon damals zu Feinden gemacht hätte; Wie schön war das! Nun bist du tot, und ich stehe zu meiner Freude noch, wenn auch an deiner Bahre! Von solcher Art sind, wie man weiß, die Gefühle bejahrter Leute beim Absterben gleichaltriger. Es bricht, wenn man in die Eisjahre kommt, die Poesie durch. Viele Menschen, die seit ihrem siebzehnten Jahr kein Gedicht mehr gemacht haben, verfassen plötzlich eines im siebenundsiebzigsten Jahr, wenn sie ihr Testament schreiben. Wie beim Jüngsten Gericht die Toten einzeln aufgerufen werden obschon sie am Grund der Zeit samt ihren Jahrhunderten ruhen wie die Ladung in untergegangenen Schiffen! – werden im Testament die Dinge mit Namen aufgerufen und erhalten ihre im Gebrauch verlorengegangene Persönlichkeit wieder zurück. «Der Buchara-Teppich mit dem Loch von einer Zigarre, der in meinem Arbeitszimmer liegt» heißt es in solchen letzten Manuskripten, oder «der Regenschirm mit dem Nashorngriff, den ich im Mai 1887 bei Sonnenschein & Winter erworben habe»; sogar die Aktienpakete werden einzeln bei ihren Nummern angesprochen und genannt.
Und es ist nicht Zufall, daß zugleich mit diesem letzten Aufleuchten jedes einzelnen Gegenstands auch das Verlangen erwacht, eine Moral, eine Mahnung, einen Segen, ein Gesetz daran zu knüpfen, die dieses ungeahnt Viele, rings um den Untergang noch einmal Auftauchende mit einer kräftigen Formel besprechen sollen. Zugleich mit der Poesie der Testamentszeit erwacht darum auch die Philosophie, und es ist begreiflichermaßen meistens eine alte und verstaubte Philosophie, die man wieder hervorholt, nachdem man sie vor fünfzig Jahren vergessen hat. Ulrich verstand auf einmal, daß keiner von diesen beiden Alten hatte nachgeben können. «Möge das Leben machen, was es will, wenn nur die Grundsätze unangefochten bleiben!»ist ein sehr vernünftiges Bedürfnis, wenn man weiß, daß man in wenigen Monaten oder Jahren von seinen Grundsätzen überlebt werden wird. Und es war deutlich zu sehen, wie in dem alten Hofrat die beiden Antriebe noch immer miteinander kämpften: sein Romantizismus, seine Jugend, seine Poesie forderten eine große, schöne Gebärde und ein edles Wort; seine Philosophie dagegen verlangte, daß er die Unberührbarkeit des Gesetzes der Vernunft durch jähe Gefühlseinfälle und vorübergehende Gemütsschwächen zum Ausdruck bringe, wie ihm solche sein toter Feind als Falle gelegt hatte. Schon seit zwei Tagen hatte sich Schwung vorgestellt: der ist nun tot, und der Schwungischen Auffassung der verminderten Zurechnungsfähigkeit steht kein Hindernis mehr im Wege; also war sein Gefühl in breiten Wogen zu dem alten Freund geströmt, und wie einen sorgsam ausgearbeiteten Mobilmachungsplan, der bloß noch des Signals zur Durchführung bedarf, hatte er sich die Abschiedsszene ausgedacht. Aber in diese war Essig gefallen und wirkte klärend. Schwung hatte mit mächtiger Bewegung begonnen, aber nun geschah ihm, wie wenn einer mitten in einem Gedicht vernünftig wird und die letzten Zeilen fallen ihm nicht mehr ein. So befanden sie sich voreinander, ein weißer Stoppelbart und weiße Bartstoppeln, beide die Kiefer unerbittlich festgeklemmt.
«Was wird er also tun?» fragte sich Ulrich, der gespannt den Auftritt beobachtete. Schließlich setzte sich in Hofrat Schwung die frohe Gewißheit, daß nun der § 318 des Strafgesetzbuches nach seinen Vorschlägen zur Annahme kommen werde, gegen den Ärger durch, und da er von den bösen Gedanken befreit war, hätte er am liebsten zu singen begonnen: «Ich hatt’ einen Kameraden ...», um seinem nunmehr guten und einzigen Gefühl Ausdruck zu geben. Und da er das nicht konnte, wandte er sich an Ulrich und sagte:
Weitere Kostenlose Bücher