Gesammelte Werke
oder den Briefen über den § 318, die sich seinem Gedächtnis unterschoben. Er besaß sonst weder Gedächtnis für Einzelheiten, noch für Wortlaut; es hatte darum etwas ganz Ungewöhnliches an sich, daß plötzlich ganze Satzgruppen in seiner Erinnerung vor ihm standen, und es verband sich mit seiner Schwester, die vor ihm stand, als sei es ihre Nähe, die diese Veränderung in ihm hervorrufe. «Hast du die Kraft besessen, unabhängig von jeder dich zwingenden Notwendigkeit dich aus dir selbst für eine Schlechtigkeit zu bestimmen, so mußt du auch einsehen, daß du schuldhaft gehandelt hast!» fuhr er fort und behauptete: «Er muß auch zu dir so gesprochen haben!»
«Vielleicht nicht ganz so» änderte es Agathe ab. «Mir hat er gewöhnlich ‹in meiner inneren Anlage bedingte Entschuldigungen› zugebilligt. Er hat mir immer vorgehalten, daß ein Wollen ein mit dem Denken verknüpftes, kein instinktmäßiges Handeln sei.»
«Es ist der Wille,» zitierte Ulrich «der sich bei fortschreitender Verstandes- und Vernunftentwicklung das Begehren, beziehungsweise den Trieb, in Gestalt der Überlegung und des darauffolgenden Entschlusses unterwerfen muß!»
«Ist das wahr?» fragte seine Schwester.
«Warum fragst du?»
«Wahrscheinlich weil ich dumm bin.»
«Du bist nicht dumm!»
«Ich habe immer schwer gelernt und nie recht verstanden.»
«Das beweist wenig.»
«Dann bin ich eben wahrscheinlich schlecht, weil ich das, was ich verstehe, nicht in mich aufnehme.»
Sie standen an die Pfosten der Türe gelehnt, die ins Nebenzimmer führte und bei Professor Schwungs Abgang offen geblieben war, einander nahe gegenüber; Tages- und Kerzenlicht spielte auf ihren Gesichtern, und ihre Stimmen verschränkten sich in einander wie bei einem Responsorium. Ulrich betete weiter seine Sätze vor, und Agathes Lippen folgten gelassen. Die alte Qual der Ermahnungen, die darin bestand, daß in das zarte, verständnislose Gehirn der Kindheit eine harte und ihm fremde Ordnung gepreßt wurde, bereitete ihnen Vergnügen, und sie spielten damit.
Und mit einemmal rief, ohne durch das Vorangegangene unmittelbar dazu aufgefordert zu sein, Agathe aus: «Denk dir das nun einfach auf alles ausgedehnt, so ist es Gottlieb Hagauer!» Und sie begann ihren Mann wie ein Schulkind nachzuäffen: «Weißt du wirklich nicht, daß das Lamium album die weiße Taubnessel ist?» «Und wie sollten wir anders vorwärts kommen, wenn nicht den gleichen mühevollen Gang der Induktion, der das Menschengeschlecht in vieltausendjähriger, mühevoller Arbeit, voll von Irrtümern, schrittweise zum heutigen Stande der Erkenntnis gebracht hat, an der Hand eines treuen Führers zurücklegend?!» «Kannst du denn nicht einsehen, liebe Agathe, daß das Denken auch eine moralische Aufgabe ist? Sich konzentrieren bedeutet eine stete Überwindung der eigenen Bequemlichkeit.» «Und geistige Zucht bedeutet jene Disziplinierung des Geistes, vermöge welcher der Mensch immer mehr in den Stand gesetzt wird, längere Gedankenreihen unter beständigem Zweifel gegen die eigenen Einfälle vernunftgemäß, das heißt durch einwandfreie Syllogismen, durch Schlußketten und Kettenschlüsse, durch Induktionen oder Schlüsse aus dem Zeichen, durchzuarbeiten und das schließlich gewonnene Urteil so lange der Verifikation zu unterziehn, bis alle Gedanken aneinander angepaßt sind!» – Ulrich staunte über diese Gedächtnisleistung seiner Schwester. Es schien Agathe unbändiges Vergnügen zu bereiten, diese Schulmeistersätze, die sie sich, Gott weiß wo, vielleicht aus einem Buch, angeeignet haben mochte, von sich zu geben und tadellos aufzusagen. Sie behauptete, so spräche Hagauer.
Ulrich glaubte es nicht. «Wie könntest du dir solche langen, verwickelten Sätze denn bloß aus Gesprächen gemerkt haben!?»
«Sie haben sich mir eingeprägt» erwiderte Agathe. «Ich bin so.»
«Weißt du denn überhaupt,» fragte Ulrich erstaunt «was ein Schluß aus dem Zeichen oder eine Verifikation ist?»
«Keine Ahnung!» räumte Agathe lachend ein. «Vielleicht hat er es auch bloß irgendwo gelesen. Aber er spricht so. Und ich habe es nach seinem Mund auswendig gelernt wie eine Reihe sinnloser Worte. Ich glaube, aus Zorn, eben weil er so redet. Du bist anders als ich: in mir bleiben die Dinge liegen, weil ich nichts mit ihnen anzufangen weiß, – das ist mein gutes Gedächtnis. Ich habe, weil ich dumm bin, ein schrecklich gutes Gedächtnis!» Sie tat, als läge darin eine traurige Wahrheit,
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