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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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«Glauben Sie mir, junger Sohn meines Freundes, es ist die sittliche Krisis, welche führt; der soziale Verfall folgt nach!» Dann wandte er sich an Agathe und fuhr fort: «Es war das Große an Ihrem Herrn Vater, daß er jederzeit bereit war, einer idealistischen Auffassung in den Grundlagen des Rechts zum Durchbruch zu verhelfen.» Dann ergriff er eine Hand Agathes und eine Hand Ulrichs, schüttelte sie und rief aus: «Ihr Vater hat kleinen Meinungsverschiedenheiten, wie sie bei langem Zusammenwirken manchmal unvermeidlich sind, viel zu großes Gewicht beigelegt. Ich war immer überzeugt, daß er das tun mußte, um sich in seinem empfindlichen Rechtssinn keinem Vorwurf auszusetzen. Es werden morgen viele Professoren von ihm Abschied nehmen, aber es wird keiner darunter sein wie er!»
    So endete dieser Auftritt versöhnlich, und Schwung hatte noch im Abgehn Ulrich bekräftigt, er möge auf die Freunde seines Vaters rechnen, falls er sich noch zur akademischen Laufbahn entschließen sollte.
    Agathe hatte mit weiten Augen zugehört und die unheimliche Endform betrachtet, die das Leben dem Menschen gibt. «Wie ein Wald von Gipsbäumen ist das gewesen!» sagte sie nachträglich zu ihrem Bruder. Ulrich lächelte und erwiderte: «Ich fühle mich so sentimental wie ein Hund bei Mondschein!»
    [◁]
5
    Sie tun Unrecht
    «Erinnerst du dich,» fragte ihn Agathe nach einer Weile «wie du einmal, als ich noch recht klein war, beim Spielen mit anderen Buben bis an die Hüften ins Wasser gefallen warst und es hast verbergen wollen, und bist bei Tisch gesessen mit deiner trockenen Oberhälfte, aber am Klappern der Zähne ist die untere Hälfte entdeckt worden?»
    Wenn Ulrich als Knabe aus dem Institut auf Ferien nach Hause gekommen – was für längere Zeit eigentlich nur jenes eine Mal geschehen war –, und als der kleine eingeschrumpfte Leichnam für die beiden noch ein fast allmächtiger Mann war, hatte es sich nicht selten ereignet, daß Ulrich eine Verfehlung nicht einbekennen wollte und sich sträubte sie zu bereuen, obgleich er sie nicht zu leugnen vermochte. Auf diese Weise hatte er sich auch damals ein tüchtiges Fieber geholt und mußte schleunigst zu Bett gebracht werden: «Und hast nur Suppe zu essen bekommen!» sagte nun Agathe.
    «Richtig!» bestätigte ihr Bruder lächelnd. Die Erinnerung daran, daß er gestraft worden sei, etwas, das ihn gar nichts mehr anging, kam ihm in diesem Augenblick nicht anders vor, als sähe er seine kleinen Kinderschuhe am Boden stehn, die ihn auch nichts mehr angingen.
    «Du hättest schon wegen deines Fiebers nichts als Suppe essen dürfen,» wiederholte Agathe «und trotzdem ist es dir auch noch strafweise verordnet worden!»
    «Richtig!» bestätigte Ulrich noch einmal. «Aber das ist natürlich nicht aus Gehässigkeit geschehen, sondern in Erfüllung einer sogenannten Pflicht.» Er wußte nicht, wohinaus seine Schwester wollte. Er selbst sah noch die Kinderschuhe. Sah sie nicht; sah sie bloß, als würde er sie sehn. Fühlte ebenso die Beleidigungen, denen er entwachsen war. Dachte: «In diesem ‹Nichtmehrangehn› drückt es sich irgendwie aus, daß man in keiner Zeit des Lebens ganz in sich selbst darin ist!»
    «Aber du hättest ja ohnehin nichts als Suppe essen dürfen!!»wiederholte Agathe noch einmal und fügte hinzu: «Ich glaube, daß ich mein ganzes Leben lang Angst davor gehabt habe, daß ich vielleicht der einzige Mensch sei, der das nicht zu verstehen vermag!»
    Können die Erinnerungen zweier Menschen, die von einer ihnen beiden bekannten Vergangenheit reden, nicht nur einander ergänzen, sondern auch, ehe sie noch ausgesprochen sind, schon verschmelzen? In diesem Augenblick geschah etwas Ähnliches! Ein gemeinsamer Zustand überraschte, ja verwirrte die Geschwister wie Hände, die unter Mänteln an Stellen hervorkommen, wo man sie nie erwartete, und einander unvermutet anfassen. Jeder wußte plötzlich von der Vergangenheit mehr, als er zu wissen vermeint hatte, und Ulrich fühlte wieder das Fieberlicht, das einstmals vom Boden die Wände hinangekrochen war, ähnlich wie es in diesem Zimmer, wo sie jetzt standen, das Gleißen der Kerzen tat; dann war der Vater gekommen, hatte den Lichtkegel der Tischlampe durchwatet und sich an sein Bett gesetzt. «War dein Bewußtsein von der Tragweite der Tat wesentlich beeinträchtigt, so dürfte sie wohl in milderem Lichte erscheinen, aber dann hast du dir das vorher einzugestehen!» Vielleicht waren das Worte aus dem Testament

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