Gesammelte Werke
die sie abschütteln müsse, um in ihrem Übermut fortzufahren: «Das geht bei Hagauer ja selbst beim Tennis so vor sich: ‹Wenn ich beim Erlernen des Tennisspiels zum erstenmal meinem Schläger absichtlich eine bestimmte Stellung gebe, um dem Ball, von dessen Flug ich bis dahin befriedigt war, nunmehr eine bestimmte Richtung zu verleihen, greife ich in den Verlauf der Erscheinung ein: ich experimentiere!›»
«Spielt er gut Tennis?»
«Ich schlage ihn sechs zu null.»
Sie lachten.
«Weißt du,» sagte Ulrich «daß Hagauer mit alledem, was du ihn sagen läßt, der Sache nach ganz recht hat?! Es ist nur komisch.»
«Das kann schon sein, daß er recht hat,» erwiderte Agathe «ich verstehe es ja nicht. Aber einmal, weißt du, hat ein Bub aus seiner Schule eine Stelle aus Shakespeare wörtlich so übersetzt:
‹Feige sterben oftmal vor ihrem Tod;
Die Tapfern kosten niemals vom Tode außer einmal.
Von all den Wundern, die ich noch habe gehört,
Es scheint für mich sehr seltsam, daß Menschen sollten fürchten,
Sehend, daß Tod, ein notwendiges Ende,
Wird kommen, wann er will kommen.›
Und er verbesserte das, ich habe das Heft selbst gesehn:
‹Der Feige stirbt schon vielmal, eh’ er stirbt!
Die Tapfern kosten einmal nur den Tod.
Von allen Wundern, die ich je gehört,
Scheint mir das größte ...›
Und so weiter nach der Ratsche der Schlegel-Übersetzung!
Und noch so eine Stelle weiß ich! Im Pindar, glaube ich, heißt es: ‹Das Gesetz der Natur, der König aller Sterblichen und Unsterblichen, herrscht, das Gewaltsamste billigend, mit allmächtiger Hand› Und er gab dem die ‹letzte Feile›: ‹Das Gesetz der Natur, das über alle Sterblichen und Unsterblichen herrscht, waltet mit allmächtiger Hand, auch das Gewaltsame billigend.›»
«Und es war doch schön,» – fragte sie – «daß der Kleine in seiner Schule, mit dem er nicht zufrieden war, die Worte so wörtlich und schaurig übersetzt hat, wie er sie da liegen fand wie einen Haufen auseinandergefallener Steine?» Und sie wiederholte: «Feige sterben oftmal vor ihrem Tod – Die Tapferen niemals kosten vom Tode außer einmal – Von all den Wundern, die ich noch habe gehört – es scheint für mich sehr seltsam, daß Menschen sollten fürchten – sehend, daß Tod, ein notwendiges Ende – wird kommen, wann er will kommen ...!!!»
Sie hatte die Hand um den Türpfosten geschlungen wie um den Stamm eines Baums und rief diese rohbehauenen Verse so wild und schön heraus, wie sie waren, ohne sich davon stören zu lassen, daß ein eingeschrumpfter Unglücklicher unter dem Blick ihrer, den Stolz der Jugend wiederspiegelnden Augen lag.
Ulrich starrte mit gerunzelter Stirn seine Schwester an. «Ein Mensch, der ein altes Gedicht nicht glättet, sondern in seiner Verwitterung halb zerstörten Sinnes beläßt, ist der gleiche wie jener, der einer alten Statue, der die Nase fehlt, niemals eine aus neuem Marmor aufsetzen wird» dachte er. «Das könnte man Stilgefühl nennen, aber das ist es nicht. Und auch der Mensch ist es nicht, dessen Einbildung so lebhaft ist, daß ihn das Fehlende nicht stört. Sondern es ist eher der Mensch, der auf Vollständigkeit überhaupt keinen Wert legt und darum auch von seinen Empfindungen nicht verlangen wird, daß sie ‹ganz› seien. Sie wird geküßt haben,» schloß er daraus mit einer plötzlichen Wendung «ohne gleich am ganzen Leib einzustürzen!» Es schien ihm in diesem Augenblick, daß er von seiner Schwester nichts zu kennen brauchte als diese leidenschaftlichen Verse, um zu wissen, daß sie nie «ganz in etwas darin», daß auch sie ein Mensch des «leidenschaftlichen Stückwerks» sei so wie er. Er vergaß darüber sogar die andere, nach Maß und Beherrschung verlangende Hälfte seines Wesens. Er hätte seiner Schwester jetzt mit Sicherheit sagen können, daß keine ihrer Handlungen zu ihrer nächsten Umgebung passe, sondern alle von einer höchst fragwürdigen weitesten Umgebung abhängig seien, ja geradezu von einer, die nirgends anfängt und nirgends begrenzt ist, und die widerspruchsvollen Eindrücke des ersten Abends würden damit eine günstige Erklärung gefunden haben. Aber die Zurückhaltung, an die er sich gewöhnt hatte, war doch noch stärker, und er wartete neugierig, ja sogar nicht ohne Zweifel ab, wie Agathe von dem hohen Ast herunterkommen werde, auf den sie sich begeben hatte. Noch stand sie ja, den Arm am Türpfosten hochgehoben, da, und ein kleiner Augenblick zuviel mochte
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