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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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schon den ganzen Vorgang verderben. Er verabscheute die Frauen, die sich so betragen, als ob sie von einem Maler oder Regisseur in die Welt gesetzt worden wären, oder die nach einer Erregung wie der Agathes in ein kunstvolles Piano ausklingen. «Vielleicht könnte sie sich» überlegte er «von ihrem Gipfel der Begeisterung plötzlich mit dem etwas blöden, nachtwandlerischen Ausdruck herabgleiten lassen, wie ihn ein aufgewachtes Medium hat; es wird ihr wohl nichts anderes übrig bleiben, und auch das wird etwas peinlich sein!» Aber Agathe schien das selbst zu wissen oder hatte in dem Blick ihres Bruders die auf sie lauernde Gefahr erraten: sie sprang lustig aus ihrer Höhe hinab auf beide Füße und streckte Ulrich die Zunge heraus!
    Dann aber wurde sie ernst und schweigsam, sagte kein Wort mehr und ging die Orden holen. So machten sich die Geschwister also daran, dem letzten Willen ihres Vaters entgegen zu handeln.
    Agathe führte es aus. An Ulrich zeigte sich eine Scheu, den hilflos daliegenden Alten zu berühren, aber Agathe hatte eine Art, Unrecht zu tun, die den Gedanken an Unrecht nicht aufkommen ließ. Die Bewegungen ihres Blicks und ihrer Hände ähnelten dabei denen einer Frau, die einen Kranken versorgt, und zuweilen hatten sie auch das urwüchsige Rührende junger Tiere, die in ihrem Spiel einhalten, um sich zu vergewissern, ob ihnen der Herr zusehe. Dieser nahm die abgelösten Orden in Empfang und reichte die Ersatzstücke. Er fühlte sich an den Dieb erinnert, dem das Herz aus der Brust springt. Und wenn er dabei den Eindruck hatte, daß die Sterne und Kreuze in der Hand seiner Schwester lebhafter leuchteten als in der seinen, ja geradeswegs zu Zauberdingen würden, so konnte das in dem schwarzgrünen, von vielen Reflexen großer Blattpflanzen erfüllten Zimmer wirklich so sein, es mochte aber auch davon herrühren, daß er den zögernd führenden Willen seiner Schwester spürte, der den seinen jugendlich ergriff; und da keine Absicht darin zu erkennen war, entstand in diesen Augenblicken einer mit nichts vermischten Berührung wieder ein beinahe ausdehnungsloses und darum ganz unbeschaffen starkes Gefühl von ihrer beider Dasein.
    Da unterbrach sich Agathe und war fertig. Nur irgend etwas war noch nicht geschehen, und nach einer kleinen Weile des Nachdenkens sagte sie lächelnd: «Wollen wir nicht jeder etwas Schönes auf einen Zettel schreiben und ihm das in die Tasche stecken?» Diesmal wußte Ulrich gleich, was sie meinte, denn solcher gemeinsamen Erinnerungen gab es nicht viele, und es fiel ihm ein, wie sie in einem bestimmten Alter eine große Vorliebe für traurige Verse und Geschichten besessen hatten, in denen jemand starb und von allen vergessen wurde. Es war vielleicht die Verlassenheit ihrer Kindheit, die das bewirkte, und oft dachten sie sich auch gemeinsam eine Geschichte aus; Agathe aber neigte schon damals dazu, solche Geschichten auch auszuführen, während Ulrich bloß in den männlicheren Unternehmungen führte, die verwegen und herzlos waren. Darum ging der Beschluß, den sie einmal faßten, daß sich jeder einen Fingernagel abschneiden solle, um ihn im Garten zu begraben, von Agathe aus, und sie tat auch noch von ihrem blonden Haar ein kleines Bündel zu den Nägeln. Ulrich erklärte stolz, daß in hundert Jahren vielleicht jemand daraufstoßen und sich verwundert fragen werde, wer das wohl gewesen sein möge, und er war dabei von der Absicht beeinflußt, auf die Nachwelt zu kommen; der kleinen Agathe dagegen kam es mehr auf das Vergraben als solches an, sie hatte das Gefühl, einen Teil von sich zu verstecken und dauernd der Aufsicht einer Welt zu entziehen, von deren pädagogischen Forderungen sie sich eingeschüchtert fühlte, ohne viel von ihnen zu halten. Und weil damals gerade das kleine Wohnhaus für die Dienstleute am Rand des Gartens erbaut wurde, verabredeten sie, etwas Ungewöhnliches zu tun. Sie wollten wundervolle Verse auf zwei Zettel schreiben und hinzusetzen, wer sie seien, und das sollte in das Haus eingemauert werden: aber als sie die Verse zu schreiben begannen, die so besonders schön sein sollten, fielen ihnen keine ein, einen Tag um den andern, und die Mauern wuchsen schon aus der Baugrube hinaus. Da schrieb Agathe schließlich, als die Stunde drängte, einen Satz aus dem Rechenbuch hin, und Ulrich schrieb: «Ich bin –», und dann folgte sein Name. Trotzdem bekamen sie furchtbares Herzklopfen, als sie sich im Garten an die zwei Maurer heranschlichen, die

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