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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Agathe, sich ihrem Bruder zu erklären. Sie war überzeugt, daß ihm diese Mißheirat in jeder Weise unverständlich sein müsse, sogar nach den einfachsten gesellschaftlichen Ansprüchen; doch konnte sie sich, obwohl in ihrem Innern die Worte schon bereit waren, nicht entschließen, den Widerstand der Steigung, der Kälte und der gegen ihr Gesicht prallenden Luft zu überwinden. Ulrich schritt vor ihr, in einer breiten Schleifspur, die sie als Pfad benutzten; sie sah seine breiten, schlanken Schultern und zögerte. Sie hatte ihn sich immer hart, unnachgiebig und etwas abenteuerlich vorgestellt, vielleicht nur nach den Tadelworten, die sie von ihrem Vater und gelegentlich auch von Hagauer über ihn hörte, und hatte sich für ihre eigene Nachgiebigkeit im Leben vor diesem der Familie entfremdeten und entsprungenen Bruder geschämt. «Er hat recht gehabt, sich um mich nicht zu kümmern!» dachte sie, und ihre Bestürzung darüber, daß sie so oft in unangemessenen Lagen ausgeharrt habe, wiederholte sich. In Wahrheit war aber die gleiche, stürmische, widerspruchsvolle Leidenschaft in ihr, die sie zwischen den Türpfosten der Todeskammer ihres Vaters jene wilden Verse hatte ausrufen lassen. Sie schob sich an Ulrich heran, geriet dadurch außer Atem, und plötzlich erklangen hervorgestoßene Fragen, wie sie diese zweckdienliche Straße wahrscheinlich noch nie gehört hatte, und der Wind wurde von Worten zerrissen, die in allen Brüdern dieses bäurischen Hügelwinds noch nicht erklungen waren.
    «Du erinnerst dich doch –» rief sie aus und nannte einige berühmte Beispiele der Literatur: «Du hast mir nicht gesagt, ob du einen Dieb entschuldigen kannst; aber diese Mörder würdest du doch gut finden?!»
    «Natürlich!» schrie Ulrich zurück. «Das heißt – nein, warte doch: vielleicht sind das nur Menschen von guter Anlage, wertvolle Menschen. Das bleibt ihnen auch später als Verbrecher. Aber gut bleiben sie nicht!»
    «Aber warum liebst du sie dann noch nach ihrer Untat»! Doch gewiß nicht nur wegen ihrer früheren guten Anlage, sondern deshalb, weil sie dir noch immer gefallen!»
    «So ist es ja immer» sagte Ulrich. «Der Mensch gibt der Tat den Charakter, und nicht umgekehrt geschieht es! Wir trennen Gut und Bös, aber in uns wissen wir, daß sie ein Ganzes sind!»
    Agathe war noch über das Rot der Kälte errötet, als sich ihr für die Leidenschaft ihrer Fragen, die sich in den Worten zugleich ausdrückte und verbarg, nur eine Anknüpfung an Bücher dargeboten hatte. Der Mißbrauch, der mit «Bildungsfragen» getrieben zu werden pflegt, ist so arg, daß das Gefühl entstehen konnte, sie seien nicht am Platz, wo der Wind bläst und Bäume stehn, als ob menschliche Bildung nicht die Zusammenfassung aller Naturgebilde wäre! Aber sie hatte sich tapfer bekämpft, ihren Arm in den ihres Bruders gelegt und erwiderte nun, nahe bei seinem Ohr, so daß sie nicht mehr schreien mußte, und mit einem eigentümlichen, im Gesicht zitternden Übermut: «Darum wohl vernichten wir die bösen Menschen, setzen ihnen aber doch freundlich eine Henkersmahlzeit vor!»
    Ulrich, der ein wenig von der Leidenschaft an seiner Seite ahnte, beugte sich zu seiner Schwester hinab und sagte ihr, immerhin laut genug, ins Ohr: «Das glaubt jeder leicht von sich, daß er nichts Böses tun könne, weil er doch ein guter Mensch sei!»
    Über diesen Worten waren sie oben angelangt, wo die Landstraße nicht mehr anstieg, sondern durch die Wellen einer ausgebreiteten, baumlosen Hochfläche schnitt. Der Wind hatte sich plötzlich gelegt, und es war nicht mehr kalt, aber in der angenehmen Stille verstummte das Gespräch wie abgeschnitten und ließ sich nicht mehr fortsetzen.
    «Wie bist du bloß mitten im Wind auf Dostojewski und Beyle verfallen?» fragte Ulrich eine Zeit später. «Wenn uns jemand beobachtet hätte: wir müßten ihm wie Narren vorgekommen sein!»
    Agathe lachte auf. «Er hätte von uns so wenig verstanden wie vom Schreien der Vögel!... Übrigens hast du mir erst unlängst von Moosbrugger erzählt.»
    Sie schritten aus.
    Nach einer Weile sagte Agathe: «Ich mag ihn aber nicht!»
    «Ich habe ihn eben auch schon fast vergessen» antwortete Ulrich.
    Nachdem sie eine Weile wieder schweigend gegangen waren, blieb Agathe stehn. «Wie ist das?» fragte sie. «Du hast doch sicher viel Unverantwortliches getan? Ich erinnere mich zum Beispiel, daß du einmal mit einem Schuß im Spital lagst. Du überlegst sicher auch nicht alles und jedes

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