Gesammelte Werke
rechtzeitig ...?» «Du stellst aber heute Fragen!» meinte Ulrich. «Was soll ich dir nun wohl darauf antworten?!»
«Bereust du nie, was du tust?» fragte Agathe rasch. «Ich habe den Eindruck, daß du nie etwas bereust. Etwas Ähnliches hast du auch einmal selbst gesagt.»
«Gott im Himmel,» gab nun Ulrich zur Antwort, der wieder ausschritt «in jedem Minus steckt ein Plus. Vielleicht habe ich so etwas gesagt, aber man braucht das doch nicht allzu wörtlich zu nehmen.»
«In allem Minus ein Plus?»
«In allem Schlechten etwas Gutes. Oder wenigstens in vielem Schlechtem. Gewöhnlich steckt in einer menschlichen Minusvariante eine nicht erkannte Plusvariante: das habe ich wahrscheinlich sagen wollen. Und wenn du etwas bereust, so kannst du doch gerade darin die Kraft finden, etwas so Gutes zu tun, wie du es sonst nie zustandebrächtest. Nie ist das, was man tut, entscheidend, sondern immer erst das, was man danach tut!»
«Und wenn du jemand einmal getötet hast, was kannst du danach tun?!»
Ulrich zuckte die Achseln. Er hatte Lust, rein aus Folgerichtigkeit zu antworten: «Ich könnte ja vielleicht dadurch befähigt werden, ein Gedicht zu schreiben, das Tausenden das innere Leben gibt, oder auch eine große Erfindung zu machen!» Aber er hielt an sich. «Nie würde das geschehn!» fiel ihm ein. «Nur ein Geisteskranker könnte es sich einbilden. Oder ein achtzehnjähriger Ästhet. Das sind, weiß Gott warum, Gedanken, die den Gesetzen der Natur widersprechen. Übrigens –» verbesserte er sich «beim Urmenschen ist es doch so gewesen; er hat getötet, weil das Menschenopfer ein großes religiöses Gedicht war!»
Er sprach nicht das eine und nicht das andere aus, aber Agathe fuhr fort: «Ich mag dir ja dumme Einwände machen, aber ich habe mir, als ich dich zum ersten Mal sagen hörte, es käme nicht auf den Schritt an, den man unternehme, sondern immer erst auf den nächsten, vorgestellt: Wenn dann ein Mensch innerlich fliegen, sozusagen moralisch fliegen und mit großer Geschwindigkeit fortwährend in neue Verbesserungen kommen könnte, dann würde er keine Reue kennen! Ich habe dich ungeheuer beneidet!»
«Das ist sinnlos» entgegnete Ulrich mit Nachdruck. «Ich habe gesagt, es käme nicht auf einen Fehltritt an, sondern auf den nächsten Schritt nach diesem. Aber worauf kommt es nach dem nächsten Schritt an? Doch offenbar auf den dann folgenden? Und nach dem nten auf den n plus ersten Schritt?! Ein solcher Mensch müßte ohne Ende und Entscheidung, ja geradezu ohne Wirklichkeit leben. Und doch ist es so, daß es immer nur auf den nächsten Schritt ankommt. Die Wahrheit ist, daß wir keine Methode besitzen, mit dieser ruhelosen Reihe richtig umzugehn. Meine Liebe,» schloß er unvermittelt «ich bereue manchmal mein ganzes Leben!»
«Gerade das triffst du doch nicht!» meinte seine Schwester.
«Warum denn nicht gar? Warum denn nun das nicht?!»
«Ich» erwiderte Agathe «habe nie etwas getan und darum immer dazu Zeit gehabt, meine wenigen Unternehmungen zu bereun. Ich bin überzeugt, daß du das nicht kennst: einen so unbeleuchteten Zustand! Da kommen die Schatten, und was war, hat Macht über mich. Es ist mit den kleinsten Einzelheiten gegenwärtig, und ich kann nichts vergessen und nichts begreifen. Es ist ein unangenehmer Zustand ...»
Sie sagte das ohne Bewegung, sehr bescheiden. Ulrich kannte es wirklich nicht, dieses Zurückströmen des Lebens, da das seine immer auf Ausdehnung eingerichtet gewesen war, und es erinnerte ihn bloß daran, daß seine Schwester sich schon manchmal in auffälliger Weise über sich selbst beklagt hatte. Aber er verabsäumte es, eine Frage zu stellen, denn sie waren mittlerweile auf einen Hügel gelangt, den er sich als das Ziel ihrer Wanderung vorgenommen hatte, und schritten seinem Rand zu. Das war eine mächtige Bodenerhebung, welche die Sage mit einer Schwedenbelagerung im Dreißigjährigen Krieg verknüpfte, weil sie wie eine Schanze aussah, wenn sie auch viel zu groß dafür war, ein grünes Bollwerk der Natur, ohne Busch und Baum, das auf der Seite, die es der Stadt zuwandte, in einer hohen hellen Felswand abbrach. Eine tiefe, leere Hügelwelt umgab diesen Platz; kein Dorf, noch Haus war zu sehen, nur Wolkenschatten und graue Weidewiesen. Ulrich wurde wieder von diesem Ort gepackt, den er aus jugendlicher Erinnerung kannte: Noch immer lag weit vorne in der Tiefe die Stadt, ängstlich um ein paar Kirchen gedrängt, die darin wie Hennen mit ihren Jungen
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