Gesammelte Werke
aussahen, so daß man unwillkürlich den Wunsch empfand, mit einem Sprung sie zu erreichen und zwischen sie hineinzusetzen oder sie mit dem Griff einer Riesenhand in die Finger zu bekommen. «Es muß ein herrliches Gefühl in diesen schwedischen Abenteurern gewesen sein, wenn sie nach wochenlangem Traben an einem solchen Ort anlangten und aus dem Sattel zum ersten Mal ihre Beute erblickten!» sagte er, nachdem er seiner Schwester die Bedeutung des Ortes erläutert hatte. «Die Schwere des Lebens – dieser heimlich auf uns lastende Mißmut, daß wir alle sterben müssen, daß alles so kurz ist und wahrscheinlich so vergeblich! – hebt sich eigentlich nur in solchen Augenblicken von uns!»
«In welchen Augenblicken, sagst du?!» fragte Agathe.
Ulrich wußte nicht, was er antworten solle. Er wollte überhaupt nicht antworten. Er erinnerte sich, daß er als junger Mensch jedesmal an dieser Stelle das Bedürfnis empfunden hatte, die Zähne zusammenzubeißen und zu schweigen. Schließlich erwiderte er: «In den abenteuerlichen Augenblicken, wo das Geschehen mit uns durchgeht: recht eigentlich also in den sinnlosen!» Er fühlte dabei den Kopf wie eine taube Nuß am Halse, und alte Sprüche darin, wie: «Gevatter Tod» oder «Ich hab mein Sach auf nichts gestellt»; und zugleich das verklungene Fortissimo der Jahre, wo sich die Grenze zwischen Lebenserwartung und Leben noch nicht gehoben hat. Er dachte: «Welche Erlebnisse habe ich seither gehabt, die eindeutig und glücklich gewesen wären? Keine.»
Agathe entgegnete: «Ich habe immer ohne Sinn gehandelt, das macht nur unglücklich.»
Sie war ganz nahe an den Rand vorgegangen; die Worte ihres Bruders drangen taub an ihr Ohr, sie verstand sie nicht und sah eine ernste, kahle Landschaft vor sich, deren Traurigkeit mit ihrer eigenen übereinstimmte. Als sie sich umwandte, sagte sie: «Es ist eine Umgebung, sich zu töten» und lächelte; «die Leere meines Kopfes würde unendlich sanft in die Leere dieses Anblicks aufgelöst werden!» Sie machte einige Schritte zu Ulrich zurück. «Durch mein ganzes Leben» fuhr sie fort «hat man mir vorgeworfen, daß ich keinen Willen habe, nichts liebe, nichts verehre, mit einem Wort, daß ich kein zum Leben entschlossener Mensch sei. Papa hat es mir vorgehalten, Hagauer hat es an mir getadelt: Nun sag mir du, um Gotteswillen, sag mir endlich, in welchen Augenblicken erscheint uns etwas im Leben notwendig?!»
«Wenn man sich im Bett umdreht!» erklärte Ulrich unwirsch.
«Was heißt das?!»
«Verzeih» bat er «das gewöhnliche Beispiel. Aber es ist wirklich so: Man ist unzufrieden mit seiner Lage; man denkt unaufhörlich daran, sie zu ändern, und faßt einen Vorsatz nach dem andern, ohne ihn auszuführen; endlich gibt man es auf: und mit einemmal hat man sich umgedreht! Eigentlich müßte man sagen, man ist umgedreht worden. Nach keinem anderen Muster handelt man sowohl in der Leidenschaft als auch in den lang geplanten Entschlüssen.» Er sah sie nicht an dabei, er antwortete sich selbst. Er fühlte noch immer: «Hier bin ich gestanden und habe etwas gewollt, das niemals befriedigt worden ist.»
Agathe lächelte auch jetzt, aber es zog über ihren Mund wie eine schmerzliche Bewegung. Sie kehrte wieder an ihren Platz zurück und sah stumm in die abenteuerliche Ferne hinaus. Dunkel hob sich ihr Pelzmantel gegen den Himmel ab, und ihre schlanke Gestalt bildete einen eindringlichen Gegensatz zu der breiten Stille der Landschaft und der darüberfliegenden Wolkenschatten. Ulrich hatte bei diesem Anblick ein unbeschreiblich starkes Gefühl des Geschehens. Er schämte sich beinahe, in Gesellschaft einer Frau dazustehn, statt an der Seite eines gesattelten Pferdes. Und obzwar ihm die ruhige Bildwirkung, die in diesem Augenblick von seiner Schwester ausging, als die Ursache deutlich bewußt war, hatte er den Eindruck, es geschehe etwas nicht mit ihm, sondern irgendwo in der Welt und er versäume es. Er nannte sich lächerlich. Und doch war etwas Richtiges an seiner unüberlegt ausgesprochenen Behauptung gewesen, daß er sein Leben bereue. Er sehnte sich manchmal danach, in Geschehnisse verwickelt zu sein wie in einen Ringkampf, und seien es sinnlose oder verbrecherische, nur gültig sollten sie sein. Endgültig, ohne das dauernd Vorläufige, das sie haben, wenn der Mensch seinen Erlebnissen überlegen bleibt. «Also in sich selbst endend-gültige» überlegte Ulrich, der jetzt ernsthaft nach einem Ausdruck suchte, und unversehens
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