Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
schweifte dieser Gedanke nicht mehr zu eingebildeten Geschehnissen, sondern endete bei dem Anblick, den Agathe selbst, und nichts als Spiegel ihrer selbst, in diesen Augenblicken darbot. So standen die Geschwister geraume Zeit von einander getrennt und jeder für sich, und ein mit Widersprüchen ausgefülltes Zaudern gestattete ihnen keine Veränderung. Das Merkwürdigste war aber wohl, daß Ulrich bei dieser Gelegenheit an nichts so wenig dachte wie daran, daß zu dieser Zeit doch schon etwas geschehen war, da er seinem ahnungslosen Schwager in Agathens Auftrag und im Wunsche, ihn abzuschütteln, die Lüge aufgebunden hatte, es wäre ein verschlossenes Testament vorhanden, das erst in einigen Tagen geöffnet werden dürfe, und ihm ebenso wider besseres Wissen versichert hatte, Agathe werde seine Ansprüche wahren, was Hagauer später Vorschubleistung nannte.
    Irgendwie kamen sie doch von dieser Stelle, wo jeder in sich versunken gewesen war, gemeinsam weiter, ohne daß sie sich ausgesprochen hätten. Der Wind war von neuem aufgefrischt, und weil Agathe Müdigkeit zeigte, schlug Ulrich vor, ein Schäferhaus aufzusuchen, von dessen Nähe er wußte. Es war eine Steinhütte, die sie bald fanden, sie mußten den Kopf neigen, als sie eintraten, und das Weib des Schäfers starrte ihnen in abwehrender Verlegenheit entgegen. In der deutsch-slawischen Mischsprache, die dortzulande verstanden und dunkel von ihm noch erinnert wurde, bat Ulrich um die Erlaubnis, daß sie sich wärmen und im Schutz des Hauses ihren Mundvorrat verzehren dürften, und unterstützte das so freiwillig mit einem Stück Geld, daß die unfreiwillige Wirtin entsetzt darüber zu jammern begann, daß sie in ihrer abstoßenden Armut «so schöne Gäste» nicht besser aufnehmen könne. Sie wischte den fettigen Tisch, der am Fenster der Hütte stand, fachte ein Reisigfeuer im Herd an und stellte Ziegenmilch darüber. Agathe hatte sich aber gleich am Tisch vorbei ans Fenster gezwängt und allen diesen Umständen keine Beachtung geschenkt, so als verstünde es sich von selbst, daß man irgendwo Obdach finde, und sei gleichgültig, wo. Sie sah durch das trübe, kleine Quadrat der vier Scheiben in die Gegend hinaus, die sich landeinwärts hinter der «Schanze» befand und ohne den weiten Auslauf des Blicks, den diese gewährte, eher an die Empfindung eines Schwimmers erinnerte, den grüne Wasserkämme umgeben. Der Tag neigte sich zwar noch nicht dem Ende zu, aber er hatte seine Höhe überschritten und schon an Licht verloren. Agathe fragte plötzlich: «Warum sprichst du nie ernst mit mir?!»
    Wie hätte Ulrich richtiger darauf antworten können als durch ein flüchtiges Aufblicken, das Unschuld und Überraschung darstellen sollte?! Er war damit beschäftigt, Schinken, Wurst und Eier auf einem Blatt Papier zwischen sich und seiner Schwester auszubreiten.
    Agathe fuhr aber fort: «Wenn man unversehens an deinen Körper stößt, tut man sich weh und erschrickt über den gewaltigen Unterschied. Wenn ich dich aber etwas Entscheidendes fragen will, löst du dich in Luft auf!» Sie rührte den Mundvorrat nicht an, den er ihr hinschob, ja sie hatte sich in ihrer Abneigung, den Tag jetzt mit einem ländlichen Festmahl zu beschließen, so aufgerichtet, daß sie nicht einmal den Tisch berührte. Und nun wiederholte sich etwas, das dem Anstieg auf der Landstraße ähnlich war. Ulrich schob die Becher mit Ziegenmilch zur Seite, die soeben vom Herd auf den Tisch gelangt waren und auf die solchen Genusses unkundigen Nasen einen sehr unangenehmen Geruch eindringen ließen; und der nüchterne leichte Ekel, den er dabei fühlte, wirkte so aufräumend, wie es manchmal eine plötzliche Bitternis tut. «Ich habe immer ernst zu dir gesprochen» entgegnete er. «Wenn es dir nicht gefällt, so kann ich nichts dafür; denn was dir an meinen Antworten nicht gefällt, ist dann die Moral unserer Zeit.» Es wurde ihm in diesem Augenblick klar, daß er seiner Schwester so vollständig, als es nur möglich sei, alles erklären wolle, was sie wissen müsse, um sich selbst, und ein wenig auch ihren Bruder, zu verstehn. Und mit der Entschlossenheit eines Mannes, der jede Unterbrechung für überflüssig erachtet, begann er einen längeren Vortrag:
    «Die Moral unserer Zeit ist, was immer sonst geredet werden möge, die der Leistung. Fünf mehr oder weniger betrügerische Konkurse sind gut, wenn auf den fünften eine Zeit des Segens und des Segenspendens folgt. Der Erfolg kann alles vergessen

Weitere Kostenlose Bücher