Gesammelte Werke
war das so, als lockte sie ein junges Lamm an: entweder kam es sanft heran, sich ihr zu nähern, oder es kümmerte sich eben nicht um sie, – aber nie begriff sie es mit Absicht, mit jener Bewegung des inneren Zugreifens, die allem kalten Verständnis etwas Gewalttätiges und doch Vergebliches gibt, da sie das Glück verscheucht, das in den Dingen ist. Auf diese Weise schien Agathe alles, was sie umgab, viel verständlicher zu sein als sonst, aber vornehmlich beschäftigten sie noch immer die Gespräche mit ihrem Bruder. Wie es der Eigenart ihres ungewöhnlich treuen Gedächtnisses entsprach, das durch keinerlei Vorsätze und Vorurteile seinen Stoff deformierte, tauchten um sie nun wieder die lebendigen Worte, die kleinen Überraschungen des Tonfalls und der Gebärde dieser Gespräche auf, ohne viel Zusammenhang und eher so, wie sie gewesen waren, noch ehe Agathe sie recht aufgefaßt und gewußt hatte, was sie wollten. Trotzdem war alles in höchstem Maße sinnvoll; ihre Erinnerung, in der schon so oft Reue geherrscht hatte, war diesmal voll ruhiger Anhänglichkeit, und in einer schmeichelnden Weise verblieb die vergangene Zeit eng an die Wärme des Körpers geschmiegt, statt sich wie sonst in Frost und Schwärze zu verlieren, die das vergeblich Gelebte empfangen.
Und so, eingehüllt in ein unsichtbares Licht, sprach Agathe auch mit den Rechtsanwälten, Notaren und Geschäftsleuten, zu denen sie ihr Weg führte. Sie stieß nirgends auf Ablehnung; man kam der reizvollen jungen Frau, die durch ihren Vatersnamen empfohlen war, in allem entgegen, was sie wünschte. Sie selbst handelte dabei im Grunde mit ebenso großer Sicherheit wie Geistesabwesenheit: was sie beschlossen hatte, stand fest, aber gleichsam außer ihr selbst, und ihre im Leben erworbene Erfahrenheit – also ebenfalls etwas, das sich von der Person unterscheiden läßt – arbeitete an diesem Beschluß weiter wie ein gewitzter Lohnknecht, der gleichmütig die Vorteile benutzt, die sich seinem Auftrag darbieten; daß sie mit allem, was sie tat, im Begriff war, einen Betrug vorzubereiten, diese Bedeutung ihres Handelns, die sich dem Unbeteiligten stark aufdrängt, setzte sich in ihrer eigenen Auffassung während dieser Zeit überhaupt nicht durch. Die Einheit ihres Gewissens schloß das aus. Der Glanz ihres Gewissens überstrahlte diesen dunklen Punkt, der gleichwohl, wie der Kern in der Flamme, mitten darin lag. Agathe wußte selbst nicht, wie sie es ausdrücken solle: durch ihren Vorsatz befand sie sich in einem Zustand, der von diesem häßlichen Vorsatz himmelweit entfernt war.
Schon am Morgen, nachdem ihr Bruder abgereist war, hatte sich Agathe sorgfältig betrachtet: es hatte mit dem Gesicht durch einen Zufall angefangen, denn ihr Blick war darauf gefallen und nicht mehr aus dem Spiegel zurückgekommen. Sie wurde so festgehalten, wie man manchmal gar nicht gehen möchte, aber doch immer neue hundert Schritte weiter geht bis zu einem zuletzt erst sichtbar gewordenen Ding, wo man dann endgültig umzukehren vorhat und es wieder unterläßt. In dieser Weise wurde sie ohne Eitelkeit von der Landschaft ihres Ich festgehalten, die ihr unter einem Hauch von Glas vor Augen lag. Sie kam zum Haar, das noch immer wie heller Samt war; sie öffnete ihrem Spiegelbild den Kragen und streifte ihm das Kleid von den Schultern; sie zog es schließlich ganz aus und musterte es bis zu den rosigen Decken der Nägel, wo an Händen und Füßen der Körper endigt und kaum noch sich selbst gehört. Noch war alles wie der blinkende Tag, der sich seinem Zenith nähert: aufsteigend, rein, genau und von jenem Werden durchflössen, das Vor-Mittag ist und sich an einem Menschen oder jungen Tier in der gleichen unbeschreiblichen Weise ausdrückt wie an einem Ball, der seinen höchsten Punkt noch nicht erreicht hat, aber nur wenig darunter ist. «Vielleicht durchschreitet er ihn gerade in diesem Augenblick» dachte Agathe. Dieser Gedanke erschreckte sie. Immerhin konnte es aber auch noch einige Zeit dauern: sie war erst siebenundzwanzig Jahre alt. Ihr Körper, unbeeinflußt von Sportlehrern und Masseuren wie von Gebären und Muttergeschäft, war von nichts geformt worden als von seinem eigenen Wachstum. Hätte man ihn nackt in eine jener großen und einsamen Landschaften versetzen können, welche die dem Himmel zugekehrte Seite hoher Bergzüge bilden, so wäre er von dem weiten und unfruchtbaren Wogenschlag solcher Höhe wie eine heidnische Göttin getragen worden. In einer Natur
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