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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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und Mädchenzeit befallen worden war, eine besondere Begegnung mit dem Tode gehabt. Damals waren – in einem kaum zu überwachenden Abnehmen ihrer Kraft, das sich in jede kleinste Zeitspanne einzuschieben schien, und im ganzen doch unaufhaltsam schnell – von Tag zu Tag mehr Teile ihres Körpers von ihr abgelöst und vernichtet worden; aber in gleichem Schritt mit diesem Verfall und dieser Abwendung vom Leben ward auch ein unvergeßliches neues einem Ziel Zustreben in ihr geweckt, das alle Unruhe und Angst aus der Krankheit verbannte und ein eigenartig gehaltvoller Zustand war, worin sie sogar eine gewisse Herrschaft über die immer unsicherer werdenden Erwachsenen ausüben konnte, die sie umgaben. Es ist nicht unmöglich, daß dieser Vorteil, den sie unter so eindrucksvollen Verhältnissen kennenlernte, später den Kern ihrer seelischen Bereitschaft bildete, sich dem Leben, dessen Erregungen aus irgendeinem Grund nicht ihren Erwartungen entsprachen, auf eine ähnliche Weise zu entziehen; es ist aber wahrscheinlicher, daß es sich umgekehrt verhielt und daß jene Krankheit, durch die sie sich den Forderungen der Schule und des Vaterhauses entzog, die erste Äußerung ihres transparenten, gleichsam für einen ihr unbekannten Gefühlsstrahl durchlässigen Verhältnisses zur Welt gebildet hatte. Denn Agathe fühlte sich einer ursprünglichen einfachen Sinnesart nach warm, lebhaft, ja sogar froh angelegt und leicht zufriedenzustellen, wie sie sich denn auch in die verschiedensten Lebenslagen verträglich geschickt hatte; auch war niemals jener Einsturz zu Gleichgültigkeit in ihr erfolgt, der Frauen widerfährt, die ihre Enttäuschung nicht mehr tragen können: aber mitten im Lachen oder dem Aufruhr einer sinnlichen Abenteurerei, die sich deshalb doch fortsetzten, wohnte die Entwertung, die jede Fiber ihres Leibes müde und sehnsüchtig nach etwas anderem machte, das eben am ehesten als Nichts zu bezeichnen war.
    Dieses Nichts hatte einen bestimmten, wenn auch unbestimmbaren, Inhalt. Lange Zeit hatte sie sich bei vielen Gelegenheiten den Satz des Novalis vorgesagt: «Was kann ich also für meine Seele tun, die wie ein unaufgelöstes Rätsel in mir wohnt? Die dem sichtbaren Menschen die größte Willkür läßt, weil sie ihn auf keine Weise beherrschen kann?» Aber das flackernde Licht dieses Satzes erlosch, nachdem es sie rasch wie ein Blitzstrahl erhellt hatte, jedesmal wieder im Dunkel, denn sie glaubte nicht an eine Seele, weil ihr das überheblich und auch für ihre Person viel zu bestimmt vorkam. Sie konnte bloß ebensowenig an das Irdische glauben. Will man das recht verstehen, so braucht man sich nur zu vergegenwärtigen, daß diese Abkehr von der irdischen Ordnung ohne Glauben an eine überirdische etwas zuinnerst Natürliches ist, denn in jedem Kopf macht sich neben dem logischen Denken mit seinem strengen und einfachen Ordnungssinn, der das Spiegelbild der äußeren Verhältnisse ist, ein affektives geltend, dessen Logik, soweit man überhaupt von einer solchen reden darf, den Eigenheiten der Gefühle, Leidenschaften und Stimmungen entspricht, so daß sich die Gesetze dieser beiden ungefähr so zueinander verhalten, wie die eines Holzplatzes, wo Klötze rechteckig behauen und versandbereit aufgestapelt werden, zu den dunkel verschlungenen Gesetzen des Waldes mit ihrem Treiben und Rauschen. Und da die Gegenstände unseres Denkens keineswegs ganz unabhängig von seinen Zuständen sind, vermengen sich nicht nur in jedem Menschen diese beiden Denkweisen, sondern sie können ihm bis zu einem gewissen Grad auch zwei Welten gegenüberstellen, zumindest unmittelbar vor und nach jenem «ersten geheimnisvollen und unbeschreiblichen Augenblick», von dem ein berühmter religiöser Denker behauptet hat, daß er in jeder sinnlichen Wahrnehmung vorkäme, ehe sich Gefühl und Anschauung voneinander trennten und die Plätze einnähmen, an denen man sie zu finden gewohnt sei: als ein Ding im Raum und ein Sinnen, das nun in den Betrachter eingeschlossen ist.
    Wie immer also das Verhältnis zwischen Dingen und Gefühl im ausgereiften Weltbild des zivilisierten Menschen auch beschaffen sein möge, kennt doch jeder die überschwenglichen Augenblicke, in denen eine Zweiteilung noch nicht auftritt, als hätten sich dann Wasser und Land noch nicht geschieden und es lägen die Wellen des Gefühls im gleichen Horizont mit den Erhöhungen und Tälern, von denen die Gestalt der Dinge gebildet wird. Es braucht nicht einmal angenommen zu

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