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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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bleiben,» dachte Ulrich «und alles, was der Einzelne dabei zu leisten hat, ist, in Einklang mit ihnen zu handeln!» Aber gerade da hielten die mit Reißschiene und Zirkel geschaffenen Linien der rollenden Örtlichkeit, die ihn umschloß, an einer Stelle, wo sein Auge, aus dem Leib des modernen Verkehrsmittels kommend und an seiner Einrichtung unwillkürlich noch teilhabend, auf eine Steinsäule fiel, die seit der Zeit des Barock am Straßenrand stand, so daß die unbewußt aufgenommene technische Bequemlichkeit der vernünftigen Schöpfung plötzlich in Gegensatz zu der hereinbrechenden Leidenschaft der alten Gebärde geriet, die einem versteinten Leibschneiden nicht gar unähnlich sah. Die Wirkung dieses optischen Zusammenstoßes war eine ungemein heftige Bestätigung der Gedanken, denen sich Ulrich soeben noch hatte entziehen wollen. Hätte sich die Kopflosigkeit des Lebens durch irgendetwas deutlicher zeigen können, als es in diesem zufälligen Blick geschah? Ohne für das Jetzt oder das Einst geschmacksweise Partei zu nehmen, wie es bei solchen Gegenüberstellungen gewöhnlich ist, zögerte sein Geist nicht einen Augenblick, sich ebensowohl von der neuen wie von der alten Zeit allein gelassen zu fühlen, und sah nur die große Vorführung eines Problems darin, das im Grunde wohl ein moralisches ist. Er vermochte nicht daran zu zweifeln, daß die Vergänglichkeit dessen, was man für Stil, Kultur, Zeitwille oder Lebensgefühl ansieht und als solche bewundert, eine moralische Gebrechlichkeit sei. Denn im großen Maßstab der Zeiten bedeutet sie nichts anderes, als es im kleineren des eigenen Lebens wäre, wenn man sein Können ganz einseitig entwickelte und sich in auflösenden Übertreibungen zerstreute, nie ein Maß seines Willens gewänne, nie zu ganzer Bildung sich bildete, und in unzusammenhängenden Leidenschaften bald das, bald jenes täte. Darum schien ihm auch das, was man Wechsel oder gar Fortschritt der Zeiten nennt, nur ein Wort dafür zu sein, daß kein Versuch bis dorthin kommt, wo sich alle vereinen müßten, auf den Weg zu einer das Ganze umfassenden Überzeugung, und damit erst zu der Möglichkeit steter Entwicklung, dauernden Genusses und jenen Ernstes der großen Schönheit, von dem heute kaum mehr als zeitweilig ein Schatten ins Leben fällt.
    Natürlich kam es Ulrich als eine ungeheuerliche Überhebung vor, anzunehmen, daß alles gleich nichts gewesen sein solle. Und doch war es nichts. Unermeßlich als Sein, Gewirr als Sinn. Zumindest war es, an seinem Ergebnis gemessen, nicht mehr als das, woraus die Seele der Gegenwart geworden ist, also wenig genug. Während Ulrich das dachte, gab er sich diesem «Wenig» aber mit einem Behagen hin, als wäre es die letzte Mahlzeit vom Tisch des Lebens, die ihm seine Absichten gestatteten. Er hatte den Wagen verlassen und einen Weg eingeschlagen, der ihn rasch in die Mitte der Stadt zurückführte. Es dünkte ihn, daß er aus einem Keller käme. Die Straßen kreischten von Vergnügen und waren frühreif mit Wärme gefüllt wie von einem Sommertag. Der süße Giftgeschmack des Mitsichselbstredens wich aus dem Munde; alles war mitteilsam und in die Sonne gestellt. Ulrich blieb vor fast jeder Auslage stehn. Diese Fläschlein in so viel Farben, eingekapselte Wohlgerüche und unzählige Abwandlungen der Nagelschere: welche Summe von Genie lag doch schon in einem Friseurladen! Ein Handschuhgeschäft: welche Beziehungen und Erfindungen, ehe eine Ziegenhaut über eine Damenhand gezogen wird und das Tierfell vornehmer geworden ist als das eigene Fell! Er staunte die Selbstverständlichkeiten, die unzähligen niedlichen Habseligkeiten des Wohllebens an, als sähe er sie zum erstenmal. Welch reizendes Wort: hab-selig! fühlte er. Und welch ein Glück, dieses ungeheure Übereinkommen des Zusammenlebens! Nichts war hier mehr von der Erdkruste des Lebens zu spüren, von den ungepflasterten Wegen der Leidenschaft, vom – er fühlte wahrhaftig: vom Unzivilisierten der Seele! Hell und schmal flog die Aufmerksamkeit über einen Blumengarten aus Früchten, Edelsteinen, Stoffen, Formen und Verlockungen, deren sanft-eindringliche Augen in allen Farben aufgeschlagen waren. Da man damals die Weiße der Haut liebte und vor der Sonne schützte, schwebten schon einzelne bunte Schirme über der Menge und legten seidene Schatten auf blasse Frauengesichter. Sogar von dem matt goldenen Bier wurde Ulrichs Blick entzückt, das er im Vorbeigehn durch die Spiegelscheiben eines

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