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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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gedacht, aber noch nie war er in der Lage gewesen, sich binnen wenigen Tagen entscheiden zu müssen, ob er es lebendig ernst nehmen wolle. Leichter Schweiß entstand ihm unter Hut und Kragen, und die Nähe der Menschen, die an ihm vorbeidrängten, regte ihn auf. Was er dachte, bedeutete soviel wie ein Abscheiden von den meisten lebendigen Beziehungen; darüber täuschte er sich nicht. Denn man lebt heute geteilt und nach Teilen mit anderen Menschen verschränkt; was man träumt, hängt mit dem Träumen zusammen und mit dem, was andere träumen; was man tut, hängt unter sich, aber noch mehr mit dem zusammen, was andere Menschen tun; und wovon man überzeugt ist, hängt mit Überzeugungen zusammen, von denen man nur den kleinsten Teil selbst hat: Aus seiner vollen Wirklichkeit handeln wollen, ist also eine ganz unwirkliche Forderung. Und gerade er war sein ganzes Leben lang immer davon durchdrungen gewesen, daß man seine Überzeugungen teilen, daß man den Mut haben müsse, inmitten moralischer Widersprüche zu leben, weil dadurch die große Leistung erkauft werde. War er wenigstens von dem überzeugt, was er da über die Möglichkeit und Bedeutung einer anderen Art zu leben dachte? Keineswegs! Trotzdem konnte er nicht verhindern, daß sich sein Gefühl darauf in einer Weise einließ, als hätte es die unverkennbaren Anzeichen einer Tatsache vor sich, auf die es jahrelang gewartet habe.
    Nun mußte er sich freilich fragen, mit welchem Recht er überhaupt dazu käme, einem Insichverliebten ähnlich, nichts der Seele Gleichgültiges mehr tun zu wollen. Es widerstrebt der Gesinnung des tätigen Lebens, die heute jeder Mensch in sich trägt, und wenn auch gottesüberzeugte Zeiten ein solches Bestreben entwickeln konnten, ist es doch unter der stärker werdenden Sonne wie Dämmerung zergangen. Ulrich fühlte einen Duft von Abgeschiedenheit und Süße an sich, der seinem Geschmack immer mehr widerstrebte. Darum bemühte er sich auch, seine ausgeschweiften Gedanken, sobald es anging, zu beschränken, und hielt sich, wenngleich nicht ganz aufrichtig, vor, daß jenes seiner Schwester wunderlich gegebene Versprechen eines Tausendjährigen Reichs, vernünftig aufgefaßt, nichts bedeute als eine Art wohltuenden Werks; es sollte wohl der Umgang mit Agathe ein Aufgebot an Zartheit und Selbstlosigkeit von ihm fordern, das ihm bisher allzusehr abgegangen war. Er erinnerte sich, so wie man sich an eine ungemein durchsichtige Wolke erinnert, die über den Himmel geflogen ist, an gewisse Augenblicke des vergangenen Beisammenseins, die schon von solcher Art gewesen waren. «Vielleicht ist der Inhalt des Tausendjährigen Reiches nichts als das Anschwellen dieser Kraft, die sich anfänglich nur zu zweien zeigt, bis zu einer brausenden Gemeinschaft aller?» überlegte er etwas befangen. Er suchte wieder Rat bei seiner eigenen «Geschichte mit der Frau Major», die er sich ins Gedächtnis rief: Die Einbildungen der Liebe, da sie in ihrer Unreife die Ursache des Irrtums gewesen waren, beiseite lassend, sammelte er seine ganze Aufmerksamkeit auf die schonungsvollen Empfindungen der Güte und Anbetung, deren er damals in seiner Einsamkeit fähig gewesen war, und es schien ihm, daß Vertrauen und Neigung zu fühlen oder für einen anderen zu leben, ein zu Tränen rührendes Glück sein müsse, so schön wie das glutvolle Versinken des Tags in den Abendfrieden und ein wenig auch so zum Weinen arm an Vergnügen und geistesstill. Denn dazwischen kam ihm sein Vorhaben nun auch schon komisch vor, etwa so wie die Übereinkunft zweier alter Junggesellen zusammenzuziehn, und an solchen Zuckungen der Phantasie fühlte er, wie wenig die Vorstellung der dienenden Bruderliebe geeignet war, ihn zu erfüllen. Verhältnismäßig anteilslos gestand er sich ein, daß der Beziehung zwischen Agathe und ihm von Anfang an ein großes Maß an Asozialem beigemengt gewesen sei. Nicht nur die Geschäfte mit Hagauer und dem Testament, sondern auch die ganze Gefühlstönung deutete auf etwas Heftiges, und zweifellos war in dieser Geschwisterlichkeit nicht mehr Liebe für einander enthalten als Abstoßung von der übrigen Welt. «Nein!» dachte Ulrich. «Für einen anderen leben wollen, ist nichts als das Fallissement des Egoismus, der nebenan ein neues Geschäft mit einem Sozius eröffnet!»
    In der Tat hatte seine innere Anspannung trotz dieser glanzvoll zugeschliffenen Bemerkung ihren Höhepunkt schon in dem Augenblick überschritten, wo er versucht worden war, das ihn

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