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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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unklar erfüllende Licht in ein irdisches Lämpchen zu fassen; und als sich nun zeigte, daß dies ein Fehler gewesen, fehlte seinem Denken bereits die Absicht, eine Entscheidung zu suchen, und er ließ sich bereitwillig ablenken. In seiner Nähe waren gerade zwei Männer zusammengestoßen und riefen sich unangenehme Bemerkungen zu, als wollten sie handgemein werden, woran er mit erfrischter Aufmerksamkeit teilnahm, und als er sich kaum davon abgewandt hatte, stieß sein Blick mit dem einer Frau zusammen, der wie eine fette, auf dem Stengel nickende Blume war. In jener angenehmen Laune, die sich zu gleichen Mengen aus Gefühl und nach außen gerichteter Aufmerksamkeit mischt, nahm er Kenntnis davon, daß die ideale Forderung, seinen Nächsten zu lieben, unter wirklichen Menschen in zwei Teilen befolgt wird, deren erster darin besteht, daß man seine Mitmenschen nicht leiden kann, während das der zweite dadurch wettmacht, daß man zu ihrer einen Hälfte in sexuelle Beziehungen gerät. Ohne zu überlegen, kehrte auch er nach wenigen Schritten um, der Frau zu folgen; es geschah noch ganz mechanisch als Folge der Berührung durch ihren Blick. Er sah ihre Gestalt unter dem Kleid wie einen großen weißen Fisch vor sich, der nahe der Wasseroberfläche ist. Er wünschte sich, ihn männlich zu harpunieren und zappeln sehen zu können, und es lag darin ebensoviel Abneigung wie Verlangen. An kaum merklichen Zeichen wurde ihm auch Gewißheit, daß diese Frau von seinem Hinterdreinstreichen wisse und es billige. Er suchte zu ermitteln, auf welchen Platz sie in der gesellschaftlichen Schichtung gehören möge, und riet auf höheren Mittelstand, wo es schwer ist, die Stellung genau zu bestimmen. «Kaufmannsfamilie? Beamtenfamilie?» fragte er sich. Aber verschiedene Bilder tauchten willkürlich auf, darunter sogar das einer Apotheke: er fühlte den scharf-süßen Geruch an dem Mann, der nach Hause kommt; die kompakte Atmosphäre des Heims, der nichts mehr von den Zuckungen anzumerken ist, unter denen sie kurz vorher die Diebslampe eines Einbrechers durchleuchtet hat. Ohne Zweifel war das abscheulich und doch ehrlos lockend.
    Und während Ulrich weiter hinter der Frau herging und in Wahrheit fürchtete, daß sie vor einer Auslage stehen bleiben und ihn zwingen werde, entweder blöde weiterzustolpern oder sie anzusprechen, war irgendetwas immer noch unabgelenkt und hellwach in ihm. «Was mag eigentlich Agathe von mir wollen?» fragte er sich zum erstenmal. Er wußte es nicht. Er nahm wohl an, daß es ähnlich sein werde wie das, was er von ihr wolle, aber er hatte nur Gefühlsgründe dafür. Mußte er sich nicht darüber wundern, wie rasch und unvorhergesehen alles gekommen sei? Außer ein paar Kindheitserinnerungen hatte er nichts von ihr gewußt, und das wenige, was er erfuhr, zum Beispiel die schon einige Jahre dauernde Beziehung zu Hagauer, war ihm eher unlieb. Er entsann sich jetzt auch des eigentümlichen Zögerns, fast Widerstrebens, womit er sich bei der Ankunft seinem Vaterhaus genähert hatte. Und plötzlich nistete sich in ihm der Einfall ein: «Mein Gefühl für Agathe ist nur Einbildung!» In einem Mann, der dauernd anderes wolle als seine Umgebung, dachte er nun wieder ernsthaft, in einem solchen Mann, der immer nur die Abneigung zu fühlen bekomme und nie bis zur Neigung gelange, müsse sich das übliche Wohlwollen und die laue Güte der Menschlichkeit leicht zerlegen und in eine kalte Härte zerfallen, über der ein Nebel von unpersönlicher Liebe schwebe. Seraphische Liebe hatte er die einmal genannt. Man könnte auch sagen: Liebe ohne Gegenspieler, dachte er. Oder ebensogut: Liebe ohne Geschlechtlichkeit. Man liebe heute überhaupt nur geschlechtlich: unter Gleichen möge man sich nicht ausstehn, und in der geschlechterweisen Verkreuzung liebe man sich mit einer wachsenden Auflehnung gegen die Überschätzung dieses Zwangs. Von beidem sei die seraphische Liebe aber befreit. Sie sei die von den Gegenströmungen der sozialen und sexuellen Abneigungen befreite Liebe. Man könnte sie, die allenthalben in Kompanie mit der Grausamkeit des heutigen Lebens zu spüren sei, wahrhaftig die Schwesterliebe einer Zeit nennen, die für Bruderliebe keinen Platz habe, – sagte er sich, ärgerlich zusammenzuckend.
    Aber obwohl er zum Schluß nun so dachte, träumte er daneben und abwechselnd damit von einer Frau, die sich in keiner Weise erreichen läßt. Sie schwebte ihm vor wie die späten Herbsttage im Gebirge, wo die Luft etwas

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