Gesammelte Werke
polygames Gleichgewicht!» sagte sie mit einem kleinen Seufzer zur Entschuldigung des Widerspruchs, der zwischen ihrem Denken und Handeln entstanden war.
Es stellte sich durch viele Zwischenfragen heraus, daß sie «polyglanduläres Gleichgewicht» habe sagen wollen, ein damals erst den Eingeweihten verständliches physiologisches Wort, das man mit Gleichgewicht der Säfte übersetzen könnte, in der Voraussetzung, daß es gewisse ins Blut wirkende Drüsen seien, die mit ihren Antrieben und Hemmungen den Charakter beeinflussen und namentlich sein Temperament, ja besonders jene Art von Temperament, von der Bonadea in gewissen Zuständen bis zum Leiden viel besaß.
Ulrich runzelte neugierig die Stirn.
«Also irgendeine Drüsensache» sagte Bonadea. «Es ist schon eine gewisse Beruhigung, wenn man weiß, daß man nichts dafür kann!» Sie lächelte wehmütig ihrem verlorenen Freund zu: «Und wenn man schnell aus dem Gleichgewicht kommt, entstehen eben leicht mißglückte Sexualerlebnisse!»
«Aber Bonadea,» fragte Ulrich verwundert «wie sprichst du?»
«Wie ich es gelernt habe. Du bist ein mißglücktes Sexualerlebnis, sagt deine Kusine. Aber sie sagt auch, man kann sich den erschütternden körperlichen und seelischen Folgen entziehn, wenn man sich vorhält, daß nichts, was wir tun, bloß unsere persönliche Angelegenheit ist. Sie ist sehr gut zu mir. Von mir behauptet sie, mein persönlicher Fehler sei es, daß ich in der Liebe zu sehr an einer Einzelheit hängen geblieben bin, statt das Liebesleben im ganzen zu betrachten. Verstehst du, mit der Einzelheit meint sie das, was sie auch ‹die rohe Erfahrung› nennt: es ist oft sehr interessant, so etwas in ihrer Beleuchtung kennen zu lernen. Aber eines gefällt mir nicht an ihr: denn schließlich hat sie, obwohl sie sagt, daß eine starke Frau ihr Lebenswerk in der Monogamie sucht und es lieben soll wie ein Künstler, doch drei, und mit dir vielleicht vier, Männer in Reserve, und ich habe für mein Glück jetzt keinen!»
Der Blick, mit dem sie ihren fahnenflüchtigen Reservisten dabei musterte, war warm und zweifelnd. Aber Ulrich wollte es nicht bemerken.
«Ihr sprecht über mich?» erkundigte er sich ahnungsvoll.
«Ach, nur zuweilen» erwiderte Bonadea. «Wenn deine Kusine ein Beispiel sucht oder wenn dein Freund, der General, da ist.»
«Womöglich ist auch noch Arnheim dabei?!»
«Er lauscht würdevoll dem Gespräch der edlen Frauen» verspottete ihn Bonadea nicht ohne Begabung zu unauffälliger Nachahmung, fügte aber ernst hinzu: «Sein Benehmen gegen deine Kusine gefällt mir überhaupt nicht. Er ist meistens verreist; und wenn er da ist, spricht er zuviel zu allen, und wenn sie das Beispiel von der Frau von Stern anführt und der –»
«Frau von Stein?» verbesserte Ulrich fragend.
«Natürlich, die Stein meine ich; von der spricht Diotima doch wirklich oft genug. Und wenn sie also von den Beziehungen spricht, die zwischen der Frau von Stein und der anderen bestanden haben, der Vul –– na, wie heißt sie doch: sie hat so einen halb unanständigen Namen?»
«Vulpius.»
«Natürlich. Verstehst du, ich höre da so viele Fremdworte, daß ich schon nicht mehr die einfachsten weiß! Also wenn sie die Frau von Stein mit der vergleicht, so sieht mich der Arnheim dauernd an, als ob ich neben seiner Angebetenen gerade nur für so eine, wie du eben gesagt hast, gut wäre!»
Nun drang Ulrich aber auf Erklärung dieser Veränderungen.
Es stellte sich heraus, daß Bonadea, seit sie den Titel einer Vertrauten Ulrichs in Anspruch nahm, auch im Vertrauen Diotimas große Fortschritte gemacht hatte.
Der Ruf der Mannstollheit, der von Ulrich im Ärger leichtfertig preisgegeben worden war, hatte in seiner Kusine eine unbegrenzte Wirkung erregt. Sie hatte die Neuangekommene, indem sie sie als eine in nicht näher bestimmter Weise für die Wohlfahrt der Menschen tätige Dame ihren Gesellschaften zuzog, einigemal im Verborgenen beobachtet, und dieser Eindringling mit Augen wie weiches Löschpapier, die das Bild ihres Hauses aufsogen, war ihr nicht nur ausgemacht unheimlich gewesen, sondern hatte in ihr auch ebensoviel weibliche Neugierde wie Grauen erregt. Um die Wahrheit zu sagen, wenn Diotima das Wort «Lustseuche» aussprach, hatte sie ähnlich ungewisse Empfindungen, wie wenn sie sich das Treiben ihrer neuen Bekannten vorstellte, und sie erwartete mit unruhigem Gewissen von einem Mal zum andern ein unmögliches Benehmen und Schmach und Schande. Bonadea
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