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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Anzüge häuften sich auf Stühlen, auf den Glasborden des Badezimmers wurde durch sorgfältiges Zusammenschieben aller der Körperpflege dienenden Geräte eine Herren- und eine Damenabteilung geschaffen; als alle Ordnung einigermaßen in Unordnung gebracht war, standen schließlich nur noch die leuchtenden Lederpantoffeln Ulrichs verlassen auf der Erde und sahen aus wie ein gekränkter Schoßhund, der aus seinem Körbchen geworfen worden ist, ein Jammerbild der zerstörten Bequemlichkeit in ihrer so angenehmen wie nichtigen Natur. Es fand sich aber nicht Zeit, davon berührt zu werden, denn schon kamen nun Agathes Koffer an die Reihe, und so wenig ihrer gewesen zu sein schienen, so unerschöpflich waren sie an fein zusammengefalteten Dingen, die sich im Hervorgehn ausbreiteten und an der Luft nichts anders aufblühten als die Hunderte Rosen, die ein Zauberer aus seinem Hut zieht. Sie mußten aufgehängt und gelegt, geschüttelt und geschichtet werden, und weil Ulrich auch mithalf, geschah es mit Zwischenfällen und Lachen.
    Bei allen diesen Beschäftigungen konnte er aber eigentlich nichts anderes denken als ununterbrochen das eine, daß er sein Leben lang und noch vor wenigen Stunden allein gewesen sei. Und nun war Agathe da. Dieser kleine Satz: «Agathe ist jetzt da» wiederholte sich in Wellen, erinnerte an das Staunen eines Knaben, dem ein Spielzeug geschenkt worden ist, hatte etwas den Geist Hemmendes an sich, aber anderseits auch eine schier unbegreifliche Fülle an Gegenwart, und führte, alles in allem, immer wieder auf den kleinen Satz zurück: «Agathe ist jetzt da.» «Sie ist also groß und schlank?» dachte Ulrich und beobachtete sie heimlich. Aber das war sie gar nicht: sie war kleiner als er und in den Schultern von einer gesunden Breite. «Ist sie anmutig?» fragte er sich. Das ließ sich nun auch nicht sagen: ihre stolze Nase zum Beispiel war, von der einen Seite gesehn, ein wenig aufgebogen; davon ging ein weit kräftigerer Reiz aus als Anmut. «Ob sie am Ende schön ist?» fragte sich Ulrich in einer etwas wunderlichen Weise. Denn diese Frage fiel ihm nicht leicht, obwohl Agathe, wenn man alles Konventionelle beiseite ließ, eine fremde Frau für ihn war. Ein inneres Verbot, eine Blutsverwandte nicht mit männlicher Liebe anzusehn, gibt es ja nicht, das ist nur Sitte oder auf Umwegen der Moral und Hygiene begründbar; auch hatte der Umstand, daß sie nicht gemeinsam erzogen worden waren, zwischen Ulrich und Agathe das sterilisierte Geschwisterempfinden, wie es in der europäischen Familie herrscht, am Entstehen verhindert; trotzdem genügte schon das Herkommen, ihre Empfindungen für einander, auch die arglose der nur gedachten Schönheit, anfangs einer äußersten Spitze zu berauben, deren Fehlen Ulrich in diesem Augenblick an seiner deutlichen Verblüffung spürte. Etwas schönfinden, heißt ja wahrscheinlich vor allem, es finden: mag es eine Landschaft oder eine Geliebte sein, da liegt es, blickt dem geschmeichelten Finder entgegen und scheint einzig und allein nur auf ihn gewartet zu haben; und so, mit diesem Entzücken darüber, daß sie nun ihm gehöre und von ihm entdeckt sein wollte, gefiel ihm seine Schwester wohl über alle Maßen, aber er dachte doch: «Wahrhaft schön finden kann man seine eigene Schwester nicht, es kann höchstens schmeicheln, daß sie anderen gefällt.» Aber dann hörte er, wo früher Stille war, minutenlang ihre Stimme, und wie war ihre Stimme? Wellen von Duft begleiteten die Bewegung ihrer Kleider, und wie war dieser Geruch? Ihre Bewegungen waren bald Knie, bald zarter Finger, bald Widerspenstigkeit einer Locke. Das einzige, was man davon sagen konnte, war: es sei da. Es war da, wo zuvor nichts gewesen war. Der Unterschied an Eindringlichkeit zwischen dem lebhaftesten Augenblick, wo Ulrich an seine zurückgelassene Schwester gedacht hatte, und dem leersten der gegenwärtigen Augenblicke bedeutete noch eine so große und deutliche Annehmlichkeit, wie wenn ein schattiger Platz von der Sonne mit Wärme und dem Duft sich öffnender Kräuter erfüllt wird!
    Auch Agathe gewahrte, daß ihr Bruder sie beobachtete, aber sie ließ es ihn nicht wissen. In den Augenblicken des Verstummens, wo sie fühlte, wie sein Blick ihren Bewegungen folgte, während Rede und Antwort nicht so sehr aussetzten, als es schien, sie glitten wie ein Fahrzeug mit abgestopptem Motor über eine tiefe und unsichere Stelle, genoß auch sie die Übergegenwart und ruhige Heftigkeit, die mit der

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