Gesammelte Werke
Weniger sicher wäre es, wenn ich dir erklären wollte, daß die Unverantwortlichkeit, in der wir heute unser Leben führen, schon die Stufe zu einer neuen Verantwortung sein könnte.»
«Auf welche Art?»
«Ach, auf vielerlei Art. Du weißt doch: das Leben einer einzelnen Person ist vielleicht nur eine kleine Schwankung um den wahrscheinlichsten Durchschnittswert einer Serie. Und ähnliches.»
Agathe hörte nur das, was ihr daran klar war. Sie sagte: «Dabei kommt ‹Recht hübsch› und ‹Sehr hübsch› heraus. Man spürt es bald nicht mehr, wie abscheulich man lebt. Aber manchmal ist es gruselig, als ob man scheintot in einer Leichenhalle aufwachte!»
«Wie warst denn du eingerichtet?» fragte Ulrich.
«Spießerisch. Hagauerisch. ‹Ganz hübsch.› Ebenso unecht wie du!»
Ulrich hatte indes einen Bleistift genommen und entwarf damit auf dem Tischtuch den Grundriß des Hauses und eine Neueinteilung der Räume. Das ging leicht und war so rasch getan, daß Agathes hausmütterliche Bewegung, das Tuch zu schützen, zu spät kam und zwecklos auf seiner Hand endete. Die Schwierigkeiten stellten sich erst wieder bei den Grundsätzen der Einrichtung ein. «Wir haben nun einmal ein Haus» verwahrte sich Ulrich «und müssen es für uns beide anders einrichten; aber im ganzen ist diese Frage heute überholt und müßig. ‹Ein Haus machen› täuscht eine Schauseite vor, hinter der sich nichts mehr befindet; die sozialen und persönlichen Verhältnisse sind nicht mehr fest genug für Häuser, es bereitet keinem Menschen mehr ein ehrliches Vergnügen, Dauer und Beharrung nach außen darzustellen. Früher einmal hat man das getan und durch die Zahl der Zimmer und Diener und Gäste gezeigt, wer man sei. Heute fühlt fast jeder, daß ein formloses Leben die einzige Form ist, die den vielfältigen Willen und Möglichkeiten entspricht, von denen das Leben erfüllt ist, und die jungen Leute lieben entweder die nackte Einfachheit, die wie ein unmöbliertes Theater ist, oder sie träumen von Schrankkoffern und Bobmeisterschaft, vom Tennischampionat und vom Luxushotel an der Autokarawanenstraße mit Golflandschaft und fließender Musik zum Auf- und Zudrehen in den Zimmern.» So sprach er, und tat es ziemlich unterhaltungsmäßig, als hätte er eine Fremde vor sich; er redete sich eigentlich an die Oberfläche empor, weil ihn die Verbindung von Endgültigkeit und Anfänglichkeit in diesem Beisammensein verlegen machte.
Aber nachdem sie ihn hatte zu Ende reden lassen, fragte seine Schwester: «Schlägst du also vor, daß wir im Hotel leben sollen?»
«Ganz gewiß nicht!» beeilte sich Ulrich zu versichern. «Höchstens hie und da auf Reisen.»
«Und für die übrige Zeit wollen wir uns eine Laubhütte auf einer Insel oder eine Blockhütte im Gebirge baun?»
«Wir werden uns natürlich hier einrichten» antwortete Ulrich ernster, als es diesem Gespräch zukam. Die Unterhaltung verstummte eine kleine Weile, er war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. Agathe tat, als hätte sie etwas an dem Saum ihres Kleides zu schaffen, und bog den Kopf aus der Linie, auf der sich ihrer beider Blicke bisher vereinigt hatten. Plötzlich blieb Ulrich stehn und sagte mit einer Stimme, die schwer hervorkam, aber aufrichtig war: «Liebe Agathe, es gibt einen Kreis von Fragen, der einen großen Umfang und keinen Mittelpunkt hat: und diese Fragen heißen alle ‹wie soll ich leben?›»
Auch Agathe hatte sich erhoben, sah ihn aber noch immer nicht an. Sie zuckte die Achseln. «Man muß es versuchen!» sagte sie. Das Blut war ihr in die Stirn gestiegen; als sie den Kopf hob, waren ihre Augen aber blank und übermütig, und nur auf den Wangen zögerte die Röte als davonziehende Wolke. «Wenn wir beisammen bleiben wollen,» erklärte sie «wirst du mir vor allem auspacken, einräumen und umkleiden helfen müssen, denn ich habe nirgends ein Hausmädchen gesehn!»
Das schlechte Gewissen fuhr ihrem Bruder nun wieder in Arme und Beine und machte sie galvanisch beweglich, unter Agathes Anleitung und Mithilfe seine Unachtsamkeit gutzumachen. Er räumte Schränke aus, wie ein Jäger ein Tier ausweidet, und verließ sein Schlafzimmer mit dem Schwur, daß es Agathe gehöre und er selbst irgendwo einen Diwan finden werde. Lebhaft trug er die Gegenstände des täglichen Bedarfs hin und her, die bisher still wie die Blumen eines Ziergartens auf ihren Plätzen gelebt hatten, der wählenden Hand als einziger Veränderung ihres Schicksals gewärtig.
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