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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Schwung. «Wer soll heute so naiv denken? Wir leben doch nicht mehr in der Ideenwelt des achtzehnten Jahrhunderts?!»
    «Da muß ich mich schon verwahren,» verteidigte sich der General gekränkt «denken Sie bloß an die Pazifisten, an die Rohköstler, an die Gegner der Gewalt, an die natürlichen Lebensreformer, an die Antiintellektuellen, an die Kriegsdienstverweigerer ...: mir fällt in der Eile gar nicht alles ein, und alle, die sozusagen dieses Vertrauen in den Menschen setzen, bilden zusammen eine große Strömung. Aber bitte,» fügte er mit jener Bereitwilligkeit hinzu, die an ihm so liebenswürdig war «wenn Sie wollen, können wir ja auch vom Gegenteil ausgehn. Gehn wir also vielleicht von der Tatsache aus, daß der Mensch geknechtet werden muß, weil er alleinig und von selbst niemals das Rechte tut: darin sind wir möglicherweise leichter einer Meinung. Die Masse braucht eine starke Hand, sie braucht Führer, die mit ihr energisch umgehn und nicht bloß reden, also mit einem Wort, sie braucht über sich den Geist der Tat; die menschliche Gesellschaft besteht eben sozusagen nur aus einer kleinen Anzahl von Freiwilligen, die dann auch die nötige Vorbildung haben, und aus Millionen ohne höheren Ehrgeiz, die nur zwangsweise dienen: so ist es doch ungefähr?! Und weil sich diese Erkenntnis allmählich auf Grund der gemachten Erfahrungen auch in unserer Aktion Bahn gebrochen hat, ist nun die erste Strömung (denn das, was ich jetzt beschrieben habe, war schon die zweite Strömung im Zeitgeist) – also die erste Strömung ist sozusagen erschrocken vor der Befürchtung, daß die große Idee der Liebe und des Glaubens an den Menschen ganz verloren gehen könnte, und da waren dann Kräfte am Werk, die eben den Feuermaul in unsere Aktion entsendet haben, um im letzten Augenblick zu retten, was noch zu retten ist. So ist alles viel einfacher zu verstehn, als es anfangs ausschaut, nicht wahr?» meinte Stumm.
    «Und was wird geschehn?» fragte Tuzzi.
    «Ich glaube, nichts» erwiderte Stumm. «Wir haben schon viele Strömungen in der Aktion gehabt.»
    «Aber zwischen diesen beiden besteht doch ein unerträglicher Widerspruch!» wandte Professor Schwung ein, der als Jurist eine solche Unklarheit nicht ertragen konnte.
    «Genau genommen nicht» – widerlegte ihn Stumm. – «Auch die andere Strömung will natürlich den Menschen lieben; nur meint sie, daß man ihn dazu vorher mit Gewalt umbilden muß: es ist das sozusagen bloß ein technischer Unterschied.»
    Hier nahm Direktor Fischel das Wort: «Da ich erst später hinzugekommen bin, überblicke ich leider nicht den ganzen Zusammenhang; aber wenn es trotzdem gestattet ist, möchte ich bemerken, daß mir die Achtung vor dem Menschen doch grundsätzlich höher zu stehen scheint als ihr Gegenteil! Ich habe heute abend von einigen Seiten, wenn es auch gewiß Ausnahmen sein werden, unglaubliche Ansichten über andersdenkende und vornehmlich andersnationale Menschen gehört!» Er sah mit seinem durch ein glattes Kinn geteilten Backenbart und dem schräg sitzenden Kneifer wie ein englischer Lord aus, der an den großen Ideen der Menschen- und Handelsfreiheit festhält, und verschwieg, daß er die gerügten Ansichten von Hans Sepp gehört hatte, seinem zukünftigen Schwiegersohn, der in der «zweiten Strömung des Zeitgeistes» recht in seinem Fahrwasser war.
    «Rohe Ansichten?» fragte ihn der General auskunftsbereit.
    «Außerordentlich rohe» bestätigte Fischel.
    «Da war vielleicht von ‹Ertüchtigung› die Rede, das kann man nämlich leicht miteinander verwechseln» meinte Stumm.
    «Nein, nein!» rief Fischel aus. «Völlig respektlose, geradezu revolutionäre Ansichten! Sie kennen vielleicht nicht unsere verhetzte Jugend, Herr Generalmajor: Ich habe mich gewundert, daß man solche Leute hier überhaupt zuläßt.»
    «Revolutionäre Ansichten?» fragte Stumm, dem das nicht gefiel, und lächelte so kühl, wie es sein rundes Antlitz nur gestattete. «Da muß ich leider sagen, Herr Direktor, daß ich durchaus nicht ganz und gar gegen das Revolutionäre bin! Natürlich heißt das, soweit man es nicht wirklich Revolution machen läßt! Oft steckt ja ungemein viel Idealismus darin. Und was das Zulassen betrifft, so hat doch die Aktion, die das gesamte Vaterland zusammenfassen soll, gar kein Recht, aufbauwillige Kräfte zurückzuweisen, in welcher Art immer sie sich ausdrücken!»
    Leo Fischel schwieg. Professor Schwung lag nicht viel an der Meinung eines Würdenträgers,

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