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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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anscheinend noch immer nicht überzeugt war, und Stumm sich selbst noch nicht am Ziele fühlte, wiederholte er seine Beweisführung an der «Relativitätstheorie» so, wie diese sich ihm darstellte: «Du hast doch gleich mir auf der Schule gelernt, daß alles, was sich bewegt, in ‹Raum und Zeit› geschieht» war der Ausgangspunkt seines Denkens. «Aber wie steht es damit in der Praxis? Erlaube, daß ich etwas ganz Gewöhnliches sage: Du sollst mit der Tête deiner Eskadron um so und soviel Uhr an einem auf der Karte bestimmten Punkt gestellt sein. Oder du sollst deine Reiter aus einer Aufstellung auf Kommando in eine neue Front bringen, die schief zu allem steht, was es an geraden Linien auf dem Exerzierplatz gibt: Es geschieht in Raum und Zeit; aber es gelingt nie ohne Zwischenfall und stimmt nie so, wie du es haben willst. Ich wenigstens habe hundert Rüffel dafür bekommen, solange ich bei der Truppe war, ich sage es aufrichtig. Auch hat es mir schon in der Schule sozusagen immer widerstanden, wenn ich an der Tafel die Aufgabe gehabt habe, eine mechanische Bewegung in Raum und Zeit auszurechnen. Darum habe ich es sofort als einen wirklich genialen Einfall begriffen, als ich davon gehört habe, daß einer endlich herausgefunden hat, daß Raum und Zeit sehr relative Begriffe sind, die sich augenblicklich mitverändern, wenn ernsthaft Gebrauch von ihnen gemacht wird, obwohl sie seit Erschaffung der Welt für das Festeste vom Festen gegolten haben. Deshalb ist dieser Mann, auch meiner Ansicht nach mit Recht, mindestens ebenso berühmt wie der andere; aber auch von ihm kann man sagen, daß er das Pferd beim Schwanz aufgezäumt hat, was also, wenigstens heute, fast so etwas wie die fixe erste Idee eines Genies zu sein scheint! Und das ist es, was ich dir zu erkennen geben möchte, wenn du auf meine Erfahrung Wert legen solltest» schloß Stumm.
    Ulrich, in seiner Schwäche für ihn, hatte zugegeben, daß die wesentlichsten wissenschaftlichen Lehren der Gegenwart einen Zug ins Grelle erkennen ließen, oder zumindest keine Scheu davor zeigten. Es mochte nicht viel bedeuten; aber wenn man mag, läßt sich darin auch ein Zeichen sehen. Ungescheute Auffälligkeit, eine Vorneigung für das Paradoxe, Ehrgeiz auf eigene Faust, Überraschung und Umstimmung des Ganzen auf widerspruchsvolle, vorher kaum beachtete Einzelheiten gehörten unzweifelhaft seit einiger Zeit zum guten Ton des Denkens, denn sie hatten sich mit großen Erfolgen gerade auf solchen Gebieten zu krönen begonnen, wo man es nicht erwartet hätte und an die sichere Verwaltung und Vermehrung eines großen geistigen Besitzes gewohnt war.
    «Aber warum denn?» fragte Stumm. «Wie ist denn das gekommen?»
    Ulrich zuckte die Achseln. Er entsann sich der verlassenen eigenen Wissenschaft, der Aufrollung ihrer Grundfragen, ihrer Aufspeilung in eine Überprüfung der Logik. Anderen Wissenschaften erging es nicht viel anders; sie fühlten ihr Gebäude durch Entdeckungen erschüttert, die sich schwer darin unterbringen ließen. Das war Schickung und Gewalt der Wahrheit. Trotzdem schien sich aber auch von einem Überdruß an dem alltäglichen, nie stillstehenden Fortschritt sprechen zu lassen, dem bisher durch die längste Zeit, im Lärm aller Gesinnungen, der stille eigentliche Glaube gegolten hatte. Ein leichter Zweifel an der Richtigkeit des baren, genauen Schritt vor Schritt Setzens war wohl auf keinem Gebiet zu leugnen. Auch das mochte eine Ursache sein. Schließlich gab Ulrich die Antwort: «Es ist vielleicht einfach das gleiche, wie wenn man müde wird; man braucht einen Ausblick, der erfrischt, oder einen Stoß, der in die Beine fährt.»
    «Warum setzt man sich denn nicht lieber nieder?» fragte Stumm.
    «Ich weiß es nicht. Jedenfalls zieht man es nach längerem ruhigen Gedeihen des Geistes vor, mit dem Umsturz zu liebäugeln. So etwas scheint sich vorzubereiten. Erinnere dich zum Vergleich vielleicht an die überhandnehmende Sprunghaftigkeit in den Künsten. Vom Politischen verstehe ich wenig: Aber vielleicht wird man einmal sagen können, daß sich in dieser Ungeduld des Geistes schon eine Revolution angedeutet hat.»
    «Pfui Teufel!» rief Stumm aus, der sich bei Künsten und revolutionärer Unruhe an die Eindrücke in Diotimas Haus erinnerte.
    «Vielleicht nur als Übergang zu einer späteren neuen Stetigkeit!» beschwichtigte ihn Ulrich.
    Das war Stumm gleichgültig. «Ich habe Diotimas Gesellschaften seit der taktlosen Geschichte gemieden, die in

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