Gesammelte Werke
wie er doch auch lieber als die getreuen die Spiegel hat, die sein Gesicht verschmälern oder seine Schultern breit machen ...»
«So kann es wohl sein» pflichtete Stumm nachdenklich bei. «Glaubst du aber, daß der Mensch später gescheiter wird?»
«Ohne Zweifel ist der gereifte Mensch fähig und geübt, das Bedeutende in größerem Ausmaß zu erkennen; aber seine gereiften eigenen Zwecke und Kräfte zwingen ihn auch, vieles von sich auszuschließen. Er lehnt nicht aus Unverständnis ab, aber er läßt mehr beiseite!»
«So ist es!» rief Stumm erleichtert aus. «Er ist nicht so beschränkt wie ein junger Mensch; aber ich möchte sagen, er ist bornierter! Und das ist auch notwendig. Wenn unsereiner mit unreifen jungen Leuten verkehrt, wie sie deine Kusine begünstigt, muß er, weiß Gott, abgehärtet sein und die Überlegenheit haben, die Hälfte von dem, was sie sagen, gar nicht zu verstehn!»
«Man könnte wohl auch Kritik üben!»
«Aber deine Kusine sagt: das sind Genies! Wie beweist man das Gegenteil?»
Ulrich wäre nicht abgeneigt gewesen, auch auf diese Frage einzugehen. «Ein Genie ist einer, der dort, wo viele vergeblich eine Lösung suchen, diese findet, indem er etwas tut, worauf keiner vor ihm verfallen ist» definierte er, um aus eigener Neugierde endlich weiterzukommen.
Aber Stumm bedankte sich: «Ich kann mich ja an die Tatsachen selbst halten» bemerkte er. «Bei Frau von Tuzzi habe ich genug Kritiker und Professoren in Person kennen gelernt, und jedesmal, wenn eines von den Genies, die das Leben oder die Kunst verbessern, gar zu sonderbare Behauptungen aufgestellt hat, habe ich sie vorsichtig um Rat gebeten.»
Ulrich Heß sich ablenken. «Und welche Erfahrung hast du gemacht?»
«Oh, sie sind immer sehr respektvoll zu mir gewesen und haben gesagt: ‹Das wäre nichts für Sie, Herr General!› Natürlich ist das vielleicht auch eine Art Arroganz von ihnen; denn obzwar sie alle neuen Künstler geradezu ängstlich loben, scheinen sie nichtsdestoweniger darauf eingebildet zu sein, daß die, in ihren eigenen Behauptungen, einander gefährlich widersprechen, ja selbst so etwas wie eine blinde Wut aufeinander haben und summa summarum vielleicht nicht wissen, was sie tun!»
«Und hast du auch erfahren, wie die Geister, die den Sonnenstich haben und von Diotima mit Lorbeer gekühlt werden, über die Kritiker und Professoren denken, sofern diese sie nicht loben?» fragte Ulrich. «Als ob sie es wären, die diese Verstandesbestien mit ihrem Fleisch fütterten; und die es wären, so von der ganzen Menschlichkeit bloß einen Streit um Knochen übrig lassen!»
«Du hast sie gut beobachtet!» pflichtete Stumm als vergnügter Kenner bei.
«Aber wie erkennst du schließlich, wo so viel Widerspruch ist, ob du dich wirklich nach einem ‹Genie› erkundigt hast, oder nicht?» fragte Ulrich folgerichtig.
Stumm gab darauf keine zwingende, aber wohl eine aufrichtige Antwort: «Es wird einem am Ende Wurst!» meinte er.
Ulrich sah ihn schweigend an. Wollte er bloß ein Rückzugsgefecht führen und sich den Fragen entziehen, die schwieriger waren, als es den Umständen entsprach, so war es ein Fehler, daß er diesen Augenblick nicht dazu benutzte, «sich vom Gegner zu lösen», wie es die richtige Taktik wäre. Aber er wußte selbst nicht, was seine Laune war. So sagte er schließlich: «Durch nichts haben die falschen Genies soviel Glück bei der Masse gewonnen wie durch das Unverständnis, das gewöhnlich die echten, und nach ihrem Beispiel gar die halb echten, für einander haben; erst recht können aber nicht die Lampenputzer den Prometheus bürsten!»
Stumm sah bei dieser Schlußziehung ebenso verständnislos wie verständnisinnig zu ihm auf. «Du mußt mich recht verstehen» trug er vorsichtig nach. «Erinnere dich an den Eifer, womit ich für Diotima eine große Idee gesucht habe. Ich weiß, was Geistesadel ist. Ich bin auch nicht der Graf Leinsdorf, für den das schließlich doch immer eine Art Kleinadel bleibt. Vorhin hast du zum Beispiel ganz hervorragend definiert, was ein Genie ist. Wie war das? Es findet eine Lösung, indem es etwas tut, worauf noch keiner verfallen ist! Eigentlich sagt das sogar das gleiche, wie ich auch gesagt habe: das erste ist, daß ein Genie seine Sache verkehrt anfängt. Aber Geistesadel ist das noch nicht! Und warum ist es nicht Geistesadel? Weil der übliche Leitstern des Zeitalters ohnehin der ist, daß unter allen Umständen etwas Bedeutendes geschehen muß; aber ob
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