Gesammelte Werke
diesem Teil des Gesprächs, daß Stumm schließlich nach einigem Kopfschütteln seine Betrachtung über den Geniestab zum besten gab, von der Ulrich später seiner Schwester erzählte. Diese Behauptung, daß das Genie noch eines Geniestabs bedürfe, erinnerte übrigens ein wenig peinlich an das, was Ulrich selbst halb mit Ironie als das Generalsekretariat der Genauigkeit und der Seele bezeichnete, und Stumm verabsäumte auch nicht, ihn daran zu mahnen, daß er zuletzt in seiner eigenen und Graf Leinsdorfs Gegenwart während der unglücklichen Gesellschaft bei Diotima davon gesprochen habe. «Du hast damals etwas sehr Ähnliches gefordert,» hielt er ihm vor Augen «und wenn ich mich nicht irre, ist es ein Büro für die Genialitäten und den Geistesadel gewesen.» – Ulrich nickte schweigsam – «Denn der Geistesadel» fuhr Stumm fort «wäre ja schließlich doch das, was den gewöhnlichen Genies fehlt. Ganz gleich, was man unter ihm versteht: Unsere Genies sind Genies, nichts darüber hinaus, lauter Spezialisten! Habe ich recht? Ich kann sehr gut verstehen, daß viele Leute sagen: es gibt heute überhaupt kein Genie!»
Ulrich nickte wieder. Es trat eine Pause ein.
«Aber eins möchte ich wissen» fragte Stumm mit dem Anflug von Eigensinn, der einem ratlos zurückkehrenden Gedanken anhaftet: «Ist es dann ein Vorwurf oder eine Auszeichnung, daß die Menschen von keinem General sagen: er ist ein Genie?»
«Beides.»
«Beides? Warum gleich beides!»
«Ich weiß es wirklich nicht.»
Stumm stutzte, aber nachdem er es sich überlegt hatte, meinte er: «Das sagst du ausgezeichnet! Ein Offizier ist nämlich beim Volk beliebt, sofern es nicht verhetzt ist; und er lernt das Volk kennen: dieses macht sich nichts aus Genies! Bis er aber General wird, muß er ein Spezialist sein, und wenn er selbst ein Spezialgenie ist, fällt er dann unter die Kategorie, daß es kein Genie gibt. Er kommt also, wie ich ausführlicher sagen möchte, gar nicht an den Punkt, wo es angebracht wäre, dieses fadiose Wort zu gebrauchen. Weißt du übrigens, daß ich neulich etwas wirklich Gescheites gehört habe? Ich war bei deiner Kusine, ganz im intimen Kreis, obwohl der Arnheim verreist ist, und wir sprechen von geistigen Fragen. Da stößt mich einer an und klärt mich leise über ihn auf: ‹Das ist ein Genie› sagt er. ‹Mehr als alle andern. Ein universaler Spezialist!› Warum schweigst du?» – Ulrich fand nichts zu sagen. – «Die Möglichkeit, die in dieser Auffassung liegt, hat mich überrascht. Übrigens bist doch gerade du auch so eine Art universaler Spezialist. Du solltest deshalb den Arnheim nicht so vernachlässigen; denn am Ende empfängt dann die Parallelaktion noch von ihm eine rettende Idee, und das könnte gefährlich sein! Ich möchte es immer noch viel lieber sehen, wenn sie von dir käme!»
Und obwohl Stumm zuletzt beiweitem mehr als Ulrich gesprochen hatte, verabschiedete er sich mit den Worten: «Es ist mir wie immer ein Genuß gewesen, mit dir zu reden, denn du verstehst das alles de facto viel besser als andere!»
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50
Genialität als Frage
(Fragment)
Ulrich hatte also dieses Gespräch seiner Schwester erzählt.
Und schon zuvor hatte er von Schwierigkeiten gesprochen, mit denen der Begriff der Genialität verknüpft ist. Was verleitete ihn dazu? Er wollte sich weder für ein Genie ausgeben noch sich höflich nach den Bedingungen erkundigen, unter denen man es werden könne. Im Gegenteil, er war eher davon überzeugt, daß der gewaltige zu seiner Zeit für den Ruf der Genialität verbrauchte Ehrgeiz kein Ausdruck der Geistes- und Seelengröße sei, sondern bloß der eines Mißverhältnisses. Aber wie sich alle Lebensfragen der Gegenwart schier in ein undurchdringliches Dickicht verstrüppen, so tun es auch die um das Geniale bestehenden; was teils die Gedanken einzudringen verlockte, teils an den Schwierigkeiten hängen bleiben ließ.
Ulrich war nach Beendigung seiner Erzählung sogleich wieder darauf zurückgekommen. Sicherlich muß, was genial ist, zumal bedeutend sein; denn genial ist die unter besonders auszeichnenden Umständen entstehende bedeutende Leistung; aber bedeutend ist nicht nur das Geringere, sondern auch das Allgemeinere. So war zuerst wieder nach diesem Begriff zu fragen. Schon die Worte Bedeutung und Bedeutend sind, wie alle, die viel benutzt werden, mehrsinnig. Einesteils sind sie mit den Begriffen des Denkens und Erkennens verbunden. Etwas bedeute etwas oder habe diese Bedeutung,
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