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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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man das Genialität heißt, oder Geistesadel, Fortschritt oder, wie man jetzt auch oft sagen hört, Rekord, ist dem Zeitalter eben weniger wichtig!»
    «Aber warum hast du dann von Geistesadel gesprochen?» half Ulrich ungeduldig nach.
    «Das kann ich eben darum nicht so genau wissen!» verteidigte sich Stumm. «Übrigens,» fuhr er, angeregt nachdenkend, fort «vielleicht könnte man ja quasi sagen, daß ein Geistesadel besonders auch den Charakter nicht in Ruh lassen darf. Da hab ich doch recht?»
    «So ist es!» munterte ihn Ulrich auf, der übrigens ganz nebenbei in diesem Augenblick zum erstenmal daran gemahnt worden, auf einen Unterschied wie den zwischen Genius und Genium achtzuhaben.
    «Ja» wiederholte Stumm nachdenklich. Und dann fragte er: «Aber was ist Charakter? Ist es das, was einem Mann zu den Ideen verhilft, die ihn auszeichnen; oder ist es das, was ihm solche Ideen verbietet? Denn ein charaktervoller Mann, der schwalbelt nicht viel herum!»
    Ulrich zog es vor, die Achseln zu zucken und zu lächeln.
    «Wahrscheinlich hängt das mit dem zusammen, was man große Ideen zu nennen pflegt. Und dann wäre Geistesadel nichts anderes als der Besitz großer Ideen» fuhr Stumm zweifelnd fort. «Aber woran erkennt man, ob eine Idee groß ist? Es gibt so viele Genies, in jeder Branche zumindest ein paar; es gehört sogar entschieden zu unserer Zeit, daß sie zu viele Genies hat: wie soll man da ein jedes verstehn und keines übersehen!» Die schmerzliche Vertrautheit mit der Frage nach einer ganz großen Idee hatte ihn wieder auf die Anteilnahme am Genie zurückgeführt.
    Ulrich zuckte noch einmal die Achseln.
    «Es gibt allerdings Leute, und ich habe solche kennen gelernt,» meinte Stumm «die sich nicht die kleinste Genialität entgehen lassen, von der irgendwo zu hören ist!»
    Ulrich erwiderte: «Das sind Snobs und geistige Vornehmtuer.»
    Der General: «Aber auch Diotima ist einer von diesen Menschen.»
    Ulrich: «Trotzdem. Ein Mensch, in den sich alles stopfen läßt, was er findet, muß ohne eigene Form gebaut sein wie ein Sack.»
    «Es ist richtig,» erwiderte der General etwas vorwurfsvoll «daß du von Diotima schon oft gesagt hast, daß sie ein Snob ist. Und auch von Arnheim hast du es manchmal gesagt. Ich habe mir darum unter einem Snob eigentlich etwas sehr Anregendes vorgestellt! Ich habe mir sogar ehrlich Mühe gegeben, einer zu sein und mir nichts entgehen zu lassen. Und es fällt mir schwer zu hören, daß du plötzlich sagst, nicht einmal auf einen Snob ist Verlaß, daß er das Geniale begreift. Du hast nämlich schon vorher gesagt, die Jugend verbürgt es nicht und das Alter auch nicht. Und dann haben wir erhoben, daß es die Genies nicht tun und die Kritischen erst recht nicht. Ja, da müßte es ja von selbst kommen, daß sich am Ende die Genialität allen zu erkennen gibt!»
    «Mit der Zeit kommt es!» beschwichtigte ihn Ulrich lachend. «Die meisten Menschen glauben, daß die Zeit ganz natürlich das Bedeutende hervorkehrt.»
    «Ja, auch das hört man. Aber erklär es mir, wenn du kannst!» bat Stumm ungeduldig. «Ich kann verstehen, daß man mit fünfzig Jahren gescheiter ist als mit zwanzig. Aber um acht Uhr abends bin ich nicht gescheiter als um acht Uhr morgens; und daß man mit neunzehnhundertvierzehn Jahren gescheiter sein soll als mit achtzehnhundertvierzehn, vermag ich auch nicht einzusehen!»
    Dadurch kam es, daß sie noch ein wenig das schwierige Kapitel der Genialität abhandelten, das einzige nach Ulrichs Meinung, das die Menschheit rechtfertigt; aber zugleich das aufregendste und beschämendste, weil man nie weiß, ob man Genialität vor sich hat oder eine ihrer halb entgeisteten Nachahmungen. Woran ist sie zu unterscheiden? Wie erbt sie sich fort? Könnte sie sich höher entwickeln, wenn sie nicht beständig gehindert würde? Ist sie überhaupt, wie Stumm gefragt hatte, so sehr zu wünschen? Das waren Fragen, die für Stumm zur Schönheit des Zivilen und zu deren schändlicher Unordnung gehörten, dagegen von Ulrich nun mit einer Wetterkunde verglichen wurden, die nicht bloß nicht wüßte, ob es morgen schön sein werde, sondern auch nicht, ob es gestern schön gewesen sei. Denn das Urteil darüber, was genial gewesen sei, wechselt mit dem Geist der Zeiten, gesetzt, daß überhaupt danach gefragt werde, was durchaus nicht schlechthin das Zeichen der Größe der Seele und des Geistes sein muß.
    Solche Rätsel wären es wohl wert gelöst zu werden, und darum geschah es in

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