Gesammelte Werke
verstanden werde, als Begriff von etwas ist er im Gebrauch nichts als der Gegenwert und die aufgespeicherte Bereitschaft zu allen wahren Aussagen von diesem Etwas, die möglich sind. Dieser Grundsatz, der das Verfahren der Logik umkehrt, ist «empiristisch», das heißt, er gemahnt, wenn man einen abgestempelten Namen für ihn verwenden soll, an diese bekannte Richtung des philosophischen Denkens, ohne jedoch ganz ebenso gemeint zu sein. Hätte nun Ulrich seiner Gefährtin erklären sollen, was Empirismus in seiner älteren Gestaltung sei, und was in seiner bescheideneren neuen, vielleicht verbesserten Fassung? Wie es oft geschieht, wenn ein Gedanke an Richtigkeit gewinnt, hat das schärfer werdende Denken auf falsche Antworten verzichtet, und auf einige tiefere Fragen auch.
Was in der philosophischen Sprache Empirismus getauft worden ist, ist eine Lehre gewesen, die das immerhin erstaunliche Vorhandensein und unveränderliche Walten von Gesetzen in der Natur und in den Regeln des Geistes kurzerhand für eine täuschende Ansicht erklärt hat, die aus der Gewöhnung an die häufige Wiederholung der gleichen Erfahrungen entstehe. Was sich oft genug wiederhole, scheine so sein zu müssen, ist ungefähr die klassische Formel dafür gewesen; und in dieser übertriebenen Gestalt, die ihr das achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert gegeben hat, war sie eine Rückwirkung der langen vorhergegangenen theologischen Spekulation, das heißt des in Gott gesetzten Glaubens, seine Werke mit Hilfe dessen erklären zu können, was man sich in den Kopf setzt. Begriffe und Ideen zeigen, wenn sie Macht haben, dieselbe Neigung, sich anbeten zu lassen und willkürliche Entscheidungen auszusenden, wie Menschen; und also hat sich wohl in den Empirismus der Neuzeit bei seiner Entstehung ein etwas oberflächliches Widerspiel gegen den grundgläubigen Rationalismus eingemengt, das dann, selbst zur Macht gekommen, mit schuld daran war, daß eine flach materialistische natur- und gesellschaftsphilosophische Gesinnung zeitweilig fast volkstümlich geworden ist.
Ulrich lächelte, als er an ein Beispiel dachte, und sagte nicht weshalb. Denn man warf nicht ungern dem allzu schlichten, auf seine Regel beschränkten Empirismus vor, es geschähe nach ihm, daß die Sonne im Osten auf- und im Westen untergehe, aus keiner anderen Notwendigkeit, als daß die Sonne es bisher immer getan habe. Und wenn er das nun seiner Schwester verraten und sie gefragt hätte, was sie davon halte, so würde sie wohl, ohne sich für die Gründe und Gegengründe zu erhitzen, kurzerhand zur Antwort gegeben haben, daß die Sonne es ja einmal auch anders tun könnte. Darum lächelte er, als er an dieses Beispiel dachte; denn die Verwandtschaft der Jugend mit dem Empirismus erschien ihm tief natürlich, und ihre Neigung, alles selbst erfahren zu wollen und die überraschendsten Erfahrungen zu erwarten, rührte ihn, diesen als die ihr zeitgemäße Philosophie anzusehen. Von der Behauptung, es hätte bloß die Sicherheit einer Gewohnheit, den Sonnenaufgang täglich im Osten zu erwarten, ist es aber nur ein Schritt zu der, daß alle menschliche Erkenntnis nur persönlich empfunden und zeitbedingt oder gar wohl nur der Dünkel einer Klasse oder Rasse ist, was alles dann in der europäischen Geistesgeschichte nach und nach auch zum Vorschein gekommen ist. Wahrscheinlich sollte man dazu sagen, daß eben eine neue Eigenart des Menschen ungefähr seit der Urgroßväterzeit zum Vorschein gekommen ist; und es wäre die des empirischen Menschen oder Empirikers, des sattsam zur offenen Frage gewordenen Erfahrungsmenschen, der aus hundert gemachten Erfahrungen tausend neue zu machen weiß, die doch immer nur im gleichen Erfahrungskreis verbleiben, und der damit das gewinnreich erscheinende riesenhafte Einerlei des technischen Zeitalters erzeugt hat. Der Empirismus als Philosophie könnte als die philosophische Kinderkrankheit dieser Art des Menschen gelten ...
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Liebe deinen Nächsten wie dich selbst
Es ließe sich von vielem sagen, daß es Ulrichs Worte bestimmt haben möchte oder mit seinen Gedanken deutlich oder flüchtig verbunden gewesen sei. Zum Beispiel war es nicht lange her, daß er zu seiner Schwester und sogar auch zu anderen an dem unglücklichen Abend bei Diotima von der großen Unordnung der Gefühle gesprochen hatte, der man die große Geschichte nicht viel anders wie die kleinen Meinungsverwirrungen und schlimmen Geschichten verdanke, deren eine sich damals gerade
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