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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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ereignete. Aber sobald er jetzt etwas sagte, das allgemeine Bedeutung haben mochte, hatte er die Empfindung, daß solche Worte um einige Tage zu spät aus seinem Munde kämen. Es fehlte ihm das Verlangen, sich mit Angelegenheiten abzugeben, die ihn nicht unmittelbar angingen, oder es hielt nur aufs kürzeste vor; denn seine Seele war überbereit, sich der Welt mit allen Sinnen hinzugeben, wie immer diese auch wäre. Sein Urteil spielte dabei so gut wie keine Rolle. Es bedeutete sogar fast nichts, ob ihm etwas gefiel oder nicht. Denn es ergriff ihn einfach alles mehr, als er verstehen konnte. Ulrich war es gewohnt, sich mit anderen Menschen zu beschäftigen; aber es war immer so geschehen, wie es Gefühle und Ansichten mit sich bringen, die im großen gelten sollen, und jetzt geschah es im kleinen, einzelnen, und unbegründet zu jeder Einzelheit haltend; und war fast ein Zustand, den er vor weniger Zeit selbst bei Agathe in den Verdacht gebracht hatte, er sei eher das Mitgefühlsverlangen einer Natur, die an nichts wahrhaft teilnehme, als wirkliches Mitfühlen. Das war damals gewesen, als er bei einer nicht geringen Meinungsverschiedenheit über die Bedeutung der ihm wenig bekannten Person des Professors Lindner die verletzende Behauptung aufgestellt hatte, daß man an nichts und niemand so teilnehme, wie es sein müßte. Und in der. Tat, wenn der Zustand, worin er sich jetzt befand, eine Weile angedauert und ein volles Maß erreicht hatte, wurde es ihm unangenehm oder erschien ihm lächerlich, und er war dann auf ebenso unbegründete Weise wie zur Hingabe auch bereit, diese Hingabe wieder zurückzunehmen.
    Aber diesmal erging es Agathe auf ihre Art nicht viel anders. Ihr Gewissen war bedrückt, wenn ihm der Aufschwung fehlte; denn sie hatte sich einen zu großen Schwung genommen und fühlte sich wie eine Frau, die auf einer Schaukel steht, dem Urteil ausgesetzt. In solchen Augenblicken fürchtete sie eine Rache der Welt für die Willkür, in der sie sonst mit Männern umsprang, die von der Wirklichkeit mit Ernst sprachen; wie ihr herausgeforderter Gatte und der heftig um ihre Seele bemühte Erhalter seines Andenkens. In der tausendfältigen reizenden Betriebsamkeit, von der das Leben tags und nachts erfüllt ist, wäre für sie nicht eine einzige Beschäftigung zu finden gewesen, an der sie mit ganzem Herzen hätte teilnehmen mögen; und wessen sie sich selbst unterfing, dem sollte von anderen nichts so sicher sein wie Tadel, Geringschätzung, oder gar Verachtung. Und doch lag ein merkwürdiger Friede gerade darin! Vielleicht darf gesagt werden, in Veränderung eines Sprichworts, daß ein schlechtes Gewissen beinahe ein besseres Ruhekissen darbietet als ein gutes, sofern es nur schlecht genug ist! Die unablässige Nebentätigkeit des Geistes in der Absicht, aus allem Unrecht, in das er verwickelt ist, ein gutes persönliches Gewissen als Abschluß zu gewinnen, ist dann eingestellt und läßt dem Gemüt eine ungemessene Unabhängigkeit zurück. Eine zarte Einsamkeit, ein himmelhoher Hochmut gössen zuweilen ihren Glanz auf diese Weltausflüge. Neben den eigenen Empfindungen konnte in solchen Augenblicken die Welt plump aufgeblasen erscheinen wie ein Fesselballon, den Schwalben umkreisen, oder zu einem Hintergrund erniedrigt, der klein war wie ein Wald am Rand des Gesichtskreises. Die verletzten bürgerlichen Verpflichtungen ängstigten bloß wie ein fern und roh andringendes Geräusch; sie waren unwichtig, wenn nicht unwirklich. Eine ungeheure Ordnung, die zuletzt nichts ist als eine ungeheure Absurdität, das war dann die Welt. Und doch hatte gerade darum jede Einzelheit, der Agathe begegnete, die gespannte, die hochseiltänzerische Natur des «Einmal, und nicht wieder», die fast überspannte Natur der persönlichen ersten Entdeckung, die zauberisch bestellt ist und keine Wiederholung zuläßt; und wenn sie davon sprechen wollte, so geschah es in dem Bewußtsein, daß sich kein Wort zweimal sagen lasse, ohne seine Bedeutung zu ändern. Alles zusammen verlieh der Verantwortungslosigkeit des Durch-die-Menschen- Streifens eine schwer zu fassende Verantwortung.
    Das Weltverhalten der Geschwister war also zu dieser Zeit keine ganz einwandfreie Äußerung der Teilnahme an anderen Menschen und enthielt auf eigene Art Zuneigung und Abneigung nebeneinander in einem wie ein Regenbogen schwebenden Zustand der Rührung, anstatt daß sich diese Gegensätze seßhaft gemischt hätten, wie es dem seiner selbst gewissen Zustand der

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