Gesammelte Werke
es, ob er unsere Gedanken fruchtbar macht. Es sollte keine andere Menschenkenntnis geben als diese!»
Agathe fragte: «Wie bin ich dann aber wirklich?»
«Du bist überhaupt nicht wirklich» erwiderte Ulrich lachend. «Ich sehe dich, wie ich dich brauche, und du machst mich, was ich brauche, sehen. Wer vermöchte da leicht zu sagen, wo das Ursprüngliche und Gründende ist. Wir sind ein in der Luft schwebendes Band.»
Agathe lachte auf und fragte: «Wenn ich dich enttäusche, wirst also du schuld haben?»
«Ohne Zweifel» sagte Ulrich. «Denn es gibt Höhen, wo es keinen Sinn hat, zu unterscheiden zwischen: ich habe mich in dir geirrt, und: ich habe mich in mir selbst geirrt. Zum Beispiel die des Glaubens, die der Liebe, die der Großmut. Wer aus Großmut handelt, oder, wie man auch sagt, aus Größe, der fragt nicht nach Täuschung, noch nach Sicherheit. Er darf sogar manches nicht wissen wollen, er wagt den Sprung über die Unwahrheit ...»
«Könntest du nicht auch gegen Professor Lindner großmütig sein?» fragte Agathe ziemlich überraschend; denn sie sprach sonst nie von Lindner, wenn nicht ihr Bruder damit anfing. Ulrich wußte, daß sie ihm etwas verschweige. Sie verheimlichte nicht gerade, daß sie zu Lindner in irgendeiner Beziehung stehe, aber sie erzählte auch nicht, in welcher. Er erriet diese ungefähr und fügte sich mit Mißbehagen in die Notwendigkeit, Agathe ihren eigenen Umweg gehen zu lassen. Diese hatte nun in dem Augenblick, wo ihr aus Gott weiß welchen Gründen eine solche Frage über die Lippen sprang, sofort wieder festgestellt, wie schlecht doch das Wort Professor Lindner mit dem Worte Großmut zusammenpasse. Sie fühlte sowohl, daß Großmut auf irgendwelche Weise berufslos sei, als auch, daß Lindner in einer unangenehmen Art gut sei. Ulrich war verstummt. Sie suchte ihm ins Gesicht zu blicken, und als er dieses, wie er nur vermochte, abwandte, zupfte sie ihn am Ärmel. Sie benutzte so lange den Ärmel als Klingelzug, bis Ulrichs lachendes Gesicht wieder im Torrahmen des Kummers erschien und er ihr warnend eine kleine Rede darüber hielt, daß derjenige leicht ins Lächerliche verfalle, welcher in seinem Großmut den Boden des Wirklichen zu früh verlasse. Es bezog sich das aber nicht nur auf Agathes Großmut-Bereitschaft gegenüber dem verdächtigen Manne Lindner, sondern richtete einen Zweifel auch auf jene nicht zu betrügende wahre Empfindsamkeit, darin Wahrheit und Irrtum bei weitem weniger Bedeutung haben als das dauernde Strahlen des Gefühls und seine Kraft, alles sich anzuwandeln.
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60
Nachdenken
Seit diesem Auftritt meinte Ulrich, daß er vorwärts getragen würde; eigentlich wäre nur zu sagen gewesen, daß etwas Unverständliches neu hinzugekommen sei, er nahm es aber als Zuwachs an Wirklichkeit auf. Er handelte dabei vielleicht ein wenig wie einer, der seine Meinungen gedruckt gelesen hat und seither von ihrer Unumstößlichkeit überzeugt ist; aber er mochte das belächeln, zu ändern vermochte er es nicht. Und Agathe hatte ihm, gerade als er seine Schlüsse aus dem tausendjährigen Buch ziehen, vielleicht aber auch nur sein Erstaunen nochmals ausdrücken wollte, erwidert und mit dem Ausruf das Wort abgeschnitten: «Das haben wir ja schon lange besprochen!» Daß sie immer recht behielte, auch dann, wenn sie es nicht hätte, fühlte Ulrich! Denn ob es zwar nichts weniger als richtig sein konnte, daß zwischen ihnen schon genug gesagt worden wäre, – geschweige denn das Wahre oder Entscheidende! – ja gerade ein solches erlösendes Geschehen oder Zauberwort ausgeblieben war, auf das man anfangs noch hatte hoffen mögen: so wußte er doch auch, daß die Fragen, die sein Leben schon fast seit einem Jahr beherrschten, nun sehr eng und dicht, und nicht in einer verständigen, sondern in einer lebendigen Weise, um ihn zusammengerückt seien. Gerade so, als wäre nun bald doch genug über sie gesprochen worden, wenn sich auch die Antwort nicht eben in Worten ausdrückte.
Er konnte sich nicht einmal vollständig erinnern, was er darüber im Lauf der Zeit gesagt und gedacht hatte, ja beiweitem vermochte er das nicht. Er war wohl offenbar ausgezogen, um mit allen Menschen davon zu sprechen; aber es lag ja auch an dem Vorwurf selbst, daß sich nichts, was man über ihn zu sagen vermochte, in einer fortschreitenden Art aneinander fügte, sondern daß sich alles ebenso vielfältig zerstreute wie berührte. Es entstand immer wieder die gleiche Bewegung des Geistes, die
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