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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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unzeitgemäß wie zeitgemäß war, drückte sich vielleicht nichts als die Forderung aus, daß auch die Moral eine Moral haben müsse, oder die Erwartung, daß sie sie im Verborgenen habe, und nicht bloß eine sich um sich selbst drehende Klatschgeschichte auf einem bis zum Zusammenbruch kreisenden Planeten sei. Er hatte natürlich niemals geglaubt, daß der Inhalt solcher Forderung mit einem Schlag entdeckt werden könnte; es kam ihm bloß wünschenswert vor, beizeiten daran zu denken, das heißt, in einem Zeitpunkt, der nach etlichen Jahrhunderttausenden zwecklosen Drehens verhältnismäßig günstig und geeignet für die Frage zu sein schien, ob sich nicht eine Erfahrung daraus gewinnen lasse. Aber freilich, was wußte er nun auch von dem wirklich? Es war im ganzen nicht mehr, als daß auch dieser Kreis von Fragen im Verlauf seines Lebens dem gleichen Gesetz oder Schicksal unterworfen gewesen sei wie die anderen Kreise, die sich nach allen Seiten aneinanderschlossen, ohne eine Mitte zu bilden.
    Er wußte natürlich mehr davon! Zum Beispiel, daß so zu philosophieren, wie er es da tat, für schrecklich unernst gelte, und er wünschte in diesem Augenblick auf das lebhafteste, diesen Irrtum widerlegen zu können. Er wußte auch, wie man so etwas beginnt: er kannte einigermaßen die Geschichte des Denkens; er hätte darin ähnliche Bemühungen finden können und ihre erbitterte oder spöttische oder ruhige Bestreitung; er hätte sein Material ordnen, einordnen können; er hätte Fuß fassen und über sich hinausgreifen können. Für eine Weile erinnerte er sich schmerzlich seiner früheren Tüchtigkeit und namentlich jener Gesinnung, die ihm so natürlich war, daß sie ihm einmal sogar den Spottnamen eines «Aktivisten» eingetragen hatte. War er denn nicht mehr der, den beständig die Vorstellung begleitete, daß man sich um die «Ordnung des Ganzen» bemühen müsse; hatte nicht er mit einer gewissen Hartnäckigkeit die Welt einem «Laboratorium» einer «Experimentalgemeinschaft» verglichen; hatte er nie von einem «fahrlässigen Bewußtseinszustand der Menschheit» gesprochen, der in einen Willen zu verwandeln wäre; gefordert, daß man Geschichte «machen» müsse; hatte er nicht schließlich wirklich, wenn es auch nur spöttisch geschah, ein «Generalsekretariat der Genauigkeit und Seele» verlangt? Das war nicht vergessen, denn darin kann man sich nicht plötzlich ändern; das war bloß augenblicklich außer Wirksamkeit gesetzt! Es ließ sich auch nicht verkennen, woran das liege. Ulrich hatte nie über seine Gedanken Buch geführt; aber selbst wenn er sich aller auf einmal hätte entsinnen können, so wäre es ihm, das wußte er, nicht möglich gewesen, sie einfach vorzunehmen, zu vergleichen, an möglichen Erklärungen zu prüfen und schließlich das reine, so dünne Blättchen des Metalls der Wahrheit aus den Dämpfen zum Vorschein zu führen. Es war ja eine Eigentümlichkeit dieser Art von Gedanken, daß sie keinen Fortschritt zur Wahrheit besaß; und obwohl Ulrich im Grunde voraussetzte, daß sich ein solcher Fortschritt durch einen unendlichen und langsamen Vorgang in der Gesamtheit einmal doch einstellen werde, so war es ihm kein Trost, denn er besaß nicht mehr die Geduld des Sich-überleben-lassens von dem, wozu man bloß wie eine Ameise etwas beiträgt. Seine Gedanken standen mit der Wahrheit längst nicht mehr auf dem besten Fuß, und nun kam ihm wieder das als die Frage vor, die am dringendsten der Aufklärung bedurft hätte.
    Er war damit aber nochmals auf den Gegensatz von Wahrheit und Liebe zurückgekommen, der ihm kein neuer war. Es fiel ihm ein, wie oft in den letzten Wochen Agathe über seine, für ihren Geschmack noch viel zu pedantische Wahrheitsliebe gelacht habe; und manchmal mochte sie davon auch Kummer gehabt haben! Und plötzlich fand er sich bei dem Gedanken, daß es eigentlich kein widerspruchsvolleres Wort gebe als Wahrheitsliebe. «Denn man kann die Wahrheit auf Gott weiß wieviel Weisen hochstellen, bloß lieben darf man sie nicht, weil sie sich ja in der Liebe auflöst» dachte er. Und diese Behauptung, – keineswegs das gleiche wie die kleinmütige, daß die Liebe keine Wahrheit vertrage – war für ihn ebenso vertraut-unvollendbar wie alles übrige. Sobald einem Menschen die Liebe nicht als ein Erlebnis begegnet, sondern als das Leben selbst, mindestens als eine Art des Lebens, kennt er mehrere Wahrheiten. Der ohne Liebe Urteilende nennt das Ansichten, persönliche

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