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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Zusammenhang. Von Überlegung hatte das wenig an sich, und war darum auch in Beziehung zur Wirklichkeit ungewiß; aber deutlich war darin das wollüstige Hervordrängen eines anderen Wesens aus dem Grunde des ihren zu fühlen gewesen.
    Clarisse war nun überzeugt, die Irren hätten sie erraten. Und als weder durch den heimlich widerstrebenden General von Stumm noch durch Ulrich eine Einladung kam, den unterbrochenen Besuch zu wiederholen, hatte sie nach langem Zögern selbst Dr. Friedenthal angerufen und ihm angekündigt, daß sie ihn im Krankenhaus aufsuchen werde. Und der Doktor hatte alsbald für Clarisse Zeit gehabt. Als sie ihn gleich bei ihrem Kommen fragte, ob die Irren nicht vieles wüßten, was die Gesunden nicht errieten, hatte er lächelnd den Kopf geschüttelt, aber tief in ihre Augen geschaut und mit wohlgefälliger Betonung geantwortet: «Die Ärzte der Irren wissen viel, was die Gesunden nicht ahnen!» Und als er seinen Rundgang antreten mußte, hatte er sich erboten, Clarisse zu Moosbrugger mitzunehmen und dort zu beginnen, wo sie das letztemal aufgehört hätten. Clarisse war wieder in den weißen Mantel geschlüpft, den ihr Friedenthal hinhielt, als wäre das schon ganz natürlich.
    Aber – und das war das dritte Vorkommnis, das Clarisse noch nachträglich und noch mehr als die übrigen erregte – es war wieder nicht dazu gekommen, daß sie Moosbrugger sah. Denn es war etwas Merkwürdiges geschehn. Als sie den letzten Pavillon verlassen hatten und im Gehen die freie würzige Luft des Parks einatmeten, wobei Friedenthal unternehmungslustig sagte: «Nun kommt aber Moosbrugger an die Reihe!», war wieder ein Wärter dahergelaufen gekommen und hatte eine Meldung hinterbracht. Friedenthal zuckte die Schultern und sagte: «Sonderbar! Es geht wieder nicht! Bei Moosbrugger ist im Augenblick der Chef mit einer Kommission. Ich kann Sie nicht mitnehmen!» Und nachdem er ihr aus eigenem versprochen hatte, sie, sobald es möglich sei, zur Fortsetzung einzuladen, war er mit großen Schritten weggegangen, indes Clarisse durch den Wärter zurück auf die Straße gebracht worden war.
    Clarisse fand dieses zweimalige Leerausgehen ihres Besuchs auffällig und ungewöhnlich und vermutete eine Ursache dahinter. Sie hatte den Eindruck, daß man sie geflissentlich nicht zu Moosbrugger lasse und jedesmal eine andere Ausrede ersänne, ja vielleicht die Absicht habe, Moosbrugger verschwinden zu lassen, ehe sie ihn erreiche.
    Als sich Clarisse das jetzt wieder überlegte, hätte sie beinahe geweint. Sie hatte sich überlisten lassen und fühlte sich sehr beschämt; denn von Friedenthal war wieder keine Nachricht gekommen, Aber während sie sich so aufregte, beruhigte sie sich auch wieder. Es fiel ihr ein Gedanke ein, der sie jetzt oft beschäftigte, daß im Verlauf der menschlichen Geschichte viele große Männer von ihren Zeitgenossen verheimlicht und gemartert worden und viele sogar im Irrenhaus verschwunden seien. «Sie haben sich nicht wehren, noch erklären können, weil sie nur Verachtung für ihre Zeit empfanden!» dachte sie. Und sie erinnerte sich an Nietzsche, den sie vergötterte, mit dem großen traurigen Lippenbart, und ganz stumm geworden dahinter.
    Es wurde ihr dabei aber unheimlich zumute. Was sie soeben noch beleidigt und gekränkt hatte, ihre Niederlage durch den listigen Arzt, leuchtete ihr plötzlich als ein Zeichen davon ein, daß auch ihr das Schicksal eines solchen großen Menschen vorbestimmt sein könnte. Ihre Augen suchten die Richtung, in der das Irrenhaus lag, und sie wußte, daß sie diese Richtung immer als etwas Besonderes fühlte, auch wenn sie nicht daran dachte. Es war ungemein bedrückend, sich so mit den Irren eins zu fühlen, aber «sich mit dem Unheimlichen gleichzustellen, ist die Entscheidung zum Genie!» sagte sie sich.
    Inzwischen war die Sonne aufgegangen, und die Landschaft wirkte dadurch noch leerer; sie war grün und kühl mit blutigen Streifen; die Welt war noch immer niedrig und reichte Clarisse, die auf einer kleinen Anhöhe stand, nur bis an die Knöchel. Da und dort schrie eine Vogelstimme auf wie eine arme Seele. Ihr schmaler Mund breitete sich aus und lächelte der Morgenrunde zu. Sie stand, von ihrem Lächeln umgürtet, wie die Muttergottes auf der von der Sünde (Mondsichel) umschlungenen Erde. Sie überlegte, was sie zu tun habe. Eine eigentümliche Opferstimmung beherrschte sie: Allzuviel war ihr in der letzten Zeit durch den Kopf gegangen. Wiederholt hatte sie

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