Gesammelte Werke
Auffassungen, Subjektivität, Willkür; aber der Liebende weiß, er ist nicht unempfindlich für die Wahrheit, er ist überempfindlich. Er befindet sich in einer Art Enthusiasmus des Denkens, wo sich die Worte bis zum Grund öffnen. Das kann natürlich eine Täuschung sein, und Ulrich berücksichtigte es, die natürliche Folge allzu lebhaft beteiligten Gefühls. Wahrheit entsteht bei kaltem Blut; das Gefühl ist ihr abträglich, und sie dort zu erwarten, wo etwas «Sache des Gefühls» ist, gilt nach aller Erfahrung für ebenso verkehrt, wie Gerechtigkeit vom Zorn zu fordern. Trotzdem war es unbezweifelbar, was die Liebe als «das Leben selbst» von der Liebe als Erlebnis der Person unterschied. Und Ulrich überlegte nun, wie deutlich doch die Schwierigkeiten, die ihm die Ordnung seines Lebens darbot, immer mit diesem Begriff einer übermächtigen, sozusagen ihre Kompetenz überschreitenden, Liebe zusammengehangen seien. Von dem Leutnant, der ins Herz der Welt versank, bis zu dem Ulrich des letzten Jahres mit seiner mehr oder weniger überzeugten Behauptung, daß es zwei grundlegend verschiedene und schlecht verschmolzene Lebenszustände, Ichzustände, ja vielleicht sogar Weltzustände gebe, waren die Bruchstücke der Erinnerung, soweit er sie sich zu vergegenwärtigen vermochte, alle in irgendeiner Form mit dem Verlangen nach Liebe, Zärtlichkeit und gartenhaftkampflosen Seelengefilden verbunden. In diesen Breiten lag auch die Vorstellung des «rechten Lebens» so leer sie im hellen Verstandeslicht sein mochte, so reich wurde sie vom Gefühl mit halb geborenen Schatten erfüllt.
Es war ihm gar nicht angenehm, diese Bevorzugung der Liebe in seinem Denken so eindeutig anzutreffen; er hatte eigentlich erwartet, daß darin mehr und noch anderes zu gewahren sein müßte und daß Erschütterungen wie die des letzten Jahres ihre Bewegung nach verschiedenen Richtungen getragen hätten; ja, es kam ihm wirklich wunderlich vor, daß der Eroberer, dann der Moralingenieur, als die er sich in seinen Kraftjahren erwartet hatte, schließlich zu einem Minnenden und Minnesüchtigen ausreifen sollten.
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Frühspaziergang
Um Clarissens Mund kämpfte Lachen mit Schwierigkeiten; bald öffnete er sich, bald preßte er sich schmal zusammen. Sie war vorzeitig aufgestanden; Walter schlief noch, sie hatte rasch ein leichtes Kleid übergeworfen und war ins Freie getreten. Die Vögel sangen vom Wald herüber durch die leere Morgenstille. Die Halbkugel des Himmels war noch nicht mit Wärme ausgefüllt. Selbst das Licht war noch seicht verteilt. «Es reicht mir nur an die Knöchel,» dachte Clarisse «der Hahn des Morgens ist soeben erst aufgedreht worden! Alles ist vor der Zeit!» Clarisse war stark davon berührt, daß sie vor der Zeit durch die Welt wandere. Ohne einen Begriff damit zu verbinden, hätte sie beinahe geweint.
Clarisse war ein zweitesmal, ohne Walter oder Ulrich etwas davon zu sagen, im Irrenhaus gewesen. Seither war sie besonders erregbar. Sie bezog alles, was sie während der beiden Besuche gesehen hatte, persönlich auf sich. Aber namentlich beschäftigten sie drei Vorkommnisse: Das erste war, daß man sie als kaiserlichen Sohn und Mann angesprochen und begrüßt hatte. Bei der Wiederholung dieser Behauptung hatte sie ganz deutlich ihren Widerstand dagegen nachgeben gefühlt, so als ob etwas Gewöhnliches, das sonst dem Fürstlichen im Wege stand, verschwände. Und sie war von einer unaussprechlichen Lust erfüllt worden. Das zweite, was sie erregte, war, daß sich auch Meingast verwandelte, und dazu offenbar ihre und Walters Nähe benützte. Seit sie ihn – es mochte nun wohl schon einige Wochen her sein! – im Gemüsegarten gestellt und durch den wahrhaft seherischen Zuruf in Schrecken versetzt hatte, daß auch sie sich verwandle und ein Mann sein könne, mied er ihre Gesellschaft. Sie hatte ihn von da an nicht einmal mehr bei den Mahlzeiten oft gesehn; er sperrte sich mit seiner Arbeit ein oder blieb tagsüber außer Hause, und wenn er Hunger hatte, holte er sich heimlich etwas aus der Speisekammer. Erst ganz vor kurzem war es ihr gelungen, ihn wieder allein anzureden. Sie hatte ihm gesagt: «Walter hat mir verboten, davon zu sprechen, daß du dich bei uns verwandelst!» und sie hatte mit den Augen gezwinkert. Meingast verhehlte sich jedoch auch da und tat überrascht, ja sogar ärgerlich. Clarisse aber hatte ihm gesagt: «Ich werde dir vielleicht zuvorkommen!» Und sie brachte das mit dem ersten Vorkommnis in
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