Gesammelte Werke
schlang die Arme um seine Schultern und küßte ihn von Zeit zu Zeit.
Walter lag ohne sich zu rühren.
Clarisse flüsterte und murmelte etwas an seinem Ohr. Sie erklärte ihm, daß ihr vom Bock jener Mann unter das Fenster geschickt worden sei, und daß der Bock die Sinnlichkeit bedeute, die sich allenthalben vom übrigen Menschen getrennt habe. Alle Menschen kriechen abends zueinander ins Bett, und die Welt lassen sie stehn: diese niedere Lösung der großen im Menschen steckenden Lustkräfte müsse endlich einmal verhindert werden, dann wachse der Bock zum Gott! So hörte Walter sie reden. Und hatte sie denn nicht recht? Wie kam es doch, daß es ihm Freude bereitete? Wie kam es, daß ihm schon lange nichts anderes Freude bereitet hatte? Die Bilder nicht, die er früher bewundert hatte; die Meister der Musik, die er geliebt hatte, nicht; die großen Verse nicht und nicht die mächtigen Gedanken!? Und daß es ihm nun Freude bereitete Clarisse zuzuhören, wenn sie etwas erzählte, das jeder andere für Einbildungen hielte? So fragte sich Walter. Solange sein Leben vor ihm gelegen war, hatte er es voll großer Lust und Phantasie empfunden; seither hatte sich wahrhaftig der Eros davon getrennt. Tat er noch etwas mit ganzer Seele? War nicht alles, was er berührte, unwesentlich? Wahrhaftig, von seinen Fingerspitzen, von seiner Zungenspitze, seinen Eingeweiden, Augen und Ohren hatte sich die Liebe getrennt, und was übrig blieb, war bloß Asche in Lebensform oder, wie er es nun etwas großartig ausdrückte, «Jauche in geschliffenem Glas» –, war der «Bock»! Und neben ihm, an seinem Ohr, war Clarisse: ein kleiner Vogel, der plötzlich im Wald das zu weissagen begonnen hatte! Er brachte den suggestiven, den Befehlston nicht auf, ihr vorzuhalten, wo sie in ihren Ideen zu weit gehe und wo nicht. Sie war voll durcheinandergeschüttelter Bilder; und so voller Bilder wäre auch er einst gewesen, redete er sich ein. Und auch von diesen großen Bildern weiß man doch nicht, welche sich verwirklichen lassen werden und welche nicht. Jeder Mensch trage also eine Lichtgestalt in sich, behauptete jetzt Clarisse, die meisten beschieden sich aber, in der Sündengestalt zu leben, und Walter fand, daß man von ihm wohl sagen könne, er trage eine Lichtgestalt in sich, obwohl er, vielleicht sogar selbstbüßerisch, jedenfalls freiwillig, in Asche lebe. Auch eine Lichtgestalt der Welt gibt es. Er fand dieses Bild großartig. Zwar erklärte es nichts, aber wozu erklären?! Der aus allen Niederlagen immer wieder aufstrebende Hochwille der Menschheit drückte sich eben darin aus. Und jetzt erst fiel Walter mit einemmal auf, daß ihn Clarisse mindestens ein Jahr lang nicht freiwillig geküßt hatte und es jetzt zum erstenmale täte.
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64
Ein Blatt Papier. Ulrichs Tagebuch
Oft dachte Ulrich, daß alles, was er mit Agathe erlebte, eine wechselseitige Suggestion und nur unter dem Einfluß der Vorstellung denkbar wäre, daß sie ein ungewöhnliches Schicksal auserwählt habe. Es stellte sich ihnen bald unter dem Zeichen der Siamesischen Zwillinge dar, bald unter dem des Tausendjährigen Reichs, der Liebe der Seraphen, oder der Mythen des «konkaven» Welterlebnisses. Diese Gespräche wiederholten sich zwar nicht mehr, aber sie hatten in der Vergangenheit den kräftigeren Schatten wirklicher Vorgänge angenommen, von denen einmal die Rede gewesen ist. Man mag das bloß eine halbe Überzeugung nennen, wenn man meint, daß zur Überzeugung ein Denken gehöre, das sich seiner Sache völlig sicher wissen müsse; aber es gibt auch eine volle Überzeugung, die einfach aus dem Fehlen aller Einwände zustande kommt, weil eine stark und einseitig bewegte Gemütsstimmung jeden Zweifel dem Bewußtsein fernhält: Ulrich fühlte sich manchmal beinahe schon überzeugt und wußte nicht einmal, wovon. Fragte er sich dann aber – denn er mußte wohl voraussetzen, daß er an Einbildungen leide –, was sich Agathe und er zuerst gegenseitig eingebildet haben müßten, das verwunderliche Gefühl füreinander oder die nicht minder merkwürdige Veränderung des Denkens, in der es sich ausdrückte, so ließ sich das wieder nicht entscheiden, denn beides war gleich zu Anfang aufgetreten, und eines war, nahm man es allein, so unbegründet wie das andere.
Das legte ihm manchmal schon nahe, an eine Suggestion zu glauben, und er fühlte dann das unheimliche Bangen, das den selbständigen Willen beschleicht, der sich heimtückisch überfallen und von innen
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