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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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unausgeführt hinter ihm zu liegen, oder vielleicht gar noch vor ihm. Nicht ausgeführte Vorsätze können wie die verschmähten Geliebten im Traum sein, die durch viele Jahre schön geblieben sind, während sich der erstaunte Heimkehrer selbst verwüstet sieht: in einer wundersamen Ausdehnung seiner Macht meint man an ihnen wieder jung zu werden, und in dieser zwischen Unternehmungslust und Zweifel geteilten, zwischen Flammenspitze und Asche schwebenden Stimmung befand sich Ulrich jetzt am öftesten. Er las viel. Auch Agathe las viel. Sie war schon damit zufrieden, daß die Leseleidenschaft, von der sie in allen Zuständen ihres Lebens begleitet worden war, nicht mehr der Zerstreuung diente, sondern ein Ziel hatte, und sie hielt mit ihrem Bruder Schritt wie ein Mädchen, dem die flatternden Kleider nicht Zeit lassen, über den Weg nachzudenken. Es ereignete sich, daß die Geschwister nachts aufstanden, nachdem sie sich eben erst zur Ruhe begeben hatten, und sich von neuem bei ihren Büchern trafen, oder daß sie einander trotz vorgerückter Stunde überhaupt nicht schlafen ließen. Ulrich schrieb darüber: «Es scheint die einzige Leidenschaft zu sein, die wir uns gestatten. Wenn wir auch müde sind, wollen wir doch nicht auseinander gehen. Agathe sagt: ‹Sind wir denn nicht Geschwister?› das heißt: Siamesische Zwillinge; denn sonst wäre es zusammenhanglos. Selbst wenn wir zu müde sind zu sprechen, will sie nicht zu Bett gehen, weil wir nicht beisammen schlafen können. Ich verspreche ihr, bis sie einschlafe, neben ihr sitzen zu bleiben, aber sie will sich nicht auskleiden und ins Bett legen, nicht aus Scham, sondern weil sie dann etwas vor mir voraus hätte. Wir ziehen Hauskleider an. Einige Male sind wir schon aneinandergelehnt eingeschlafen. Sie war heiß vor Eifer. Ich hatte, sie zu stützen, und wußte es gar nicht, meinen Arm um ihren Körper geschlungen. Sie hat weniger Gedanken als ich und eine höhere Temperatur. Sie muß eine sehr warme Haut haben. Am Morgen sind wir blaß vor Müdigkeit und schlafen in den Tag hinein. Es kommt übrigens nicht der kleinste geistige Fortschritt dabei heraus. Wir brennen an den Büchern wie der Docht am Öl. Wir nehmen sie eigentlich ohne jede andere Wirkung als diese auf, daß wir brennen ...»
    Ulrich fügte hinzu: «Der junge Mensch hört nur mit halbem Ohr auf die Stimme der Bücher, die ihm zum Schicksal werden; schon eilt er davon, seine eigene Stimme zu erheben! Denn er sucht nicht die Wahrheit, er sucht sich. So hat es sich auch mit mir verhalten. Folge im Großen: Es gibt immer neue Menschen, und immer die alten Geschehnisse, bloß neu aufgemischt! Moralische Gebrechlichkeit der Zeitalter. Sie sind im wesentlichen wie unser Lesen ein Brennen um seiner selbst willen. Wann habe ich mir das zuletzt gesagt? Kurz vor Agathes Ankunft. Letzte Ursache dieser Erscheinung? Das Fehlen von System, Grundsätzen, Ziel, also auch von Steigerungsmöglichkeit und Folgerichtigkeit des Menschenlebens. Ich hoffe, dazu noch einiges festhalten zu können, was mir eingefallen ist. Es gehört zum ‹Generalsekretariat›. Das Sonderbare an meinem gegenwärtigen Zustand ist aber, daß ich so weit entfernt wie noch nie von solcher tätigen Teilnahme am Geistigen bin. Das ist Agathes Einfluß. Es geht Reglosigkeit von ihr aus. Trotzdem hat dieser zusammenhanglose Zustand ein eigentümliches Gewicht. Er ist gehaltvoll. Ich möchte sagen: es ist der große Gehalt an Glückseligkeit, der ihn kennzeichnet, wobei dieser Begriff natürlich ebenso unbestimmt ist wie alles übrige. Zaudernde Einschränkung, die ich mir zuschulden kommen lasse! Unser Zustand ist das andere Leben, das mir immer vorgeschwebt ist. Agathe wirkt dahin und ich frage mich: ist es als wirkliches Leben ausführbar? Unlängst hat auch sie mich danach gefragt ...!»
    Agathe hatte aber, als sie das tat, bloß ihr Buch sinken lassen und gefragt: «Kann man zwei Menschen lieben, die einander Feinde sind?» Zur Erklärung fügte sie hinzu: «Manchmal lese ich in einem Buche etwas, das dem widerspricht, was ich in einem andern Buch gelesen habe, und liebe beide Stellen. Dann denke ich daran, daß wir beide, du und ich, einander ja auch in vielem widersprechen. Kommt es nicht darauf an? Oder ist das gewissenlos?»
    Ulrich erinnerte sich sofort daran, daß sie ihn ähnliches in dem unverantwortlichen Zustande gefragt habe, wo sie das Testament abänderte. Das erzeugte unter dem Gegenwartszustand eine merkwürdige Tiefe und

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