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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Höhlung, denn den Hauptstrom seiner Gedanken führte Agathes Äußerung ohne Besinnen auf Lindner zurück. Er wußte, daß sie diesen besuche; sie hatte es ihm zwar niemals mitgeteilt, aber auch keine Anstalten getroffen, es zu verbergen.
    Die Antwort auf diese offene Art von Verheimlichung war Ulrichs Tagebuch.
    Agathe sollte nichts von diesem Tagebuch wissen.
    Wenn er daran schrieb, litt er unter dem Gefühl von ihm begangener Untreue. Oder stärkte und befreite sich damit, denn der kühlende Zustand des heimlich begangenen Unrechts zerstörte die geistige Verzauberung, die ebenso gefürchtet wie begehrt war.
    Darum hatte Ulrich als Antwort auf Agathes Frage gelächelt und keine andere Antwort gegeben.
    Und nun hatte Agathe plötzlich gefragt: «Hast du Geliebte?» Zum ersten Male geschah es da, daß sie ihm wieder eine solche Frage stellte. «Du sollst natürlich,» fügte sie hinzu «aber du hast mir doch selbst gesagt, daß du sie nicht liebst?! –» Und dann fragte sie: «Hast du einen andern Freund als mich?» Das sagte sie leichthin, als erwarte sie nun keine Antwort mehr, aber auch in der Art, leicht und spielend, als hätte sie auf der Hand eine winzige Menge einer kostbaren Substanz liegen und beschäftige sich mit ihr.
    Ulrich schrieb spät nachts in seinem Tagebuch die Antwort auf, die er gegeben hatte.
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65
    Eine Eintragung. Entwurf zur Utopie des motivierten Lebens
    «Es ist nur eine kleine Herausforderung des Lebens gewesen, daß sie mir diese Fragen stellte, und sollte bedeuten: Du und ich leben doch auch noch außerhalb des ‹Zustands›! Man kann ebenso gut ausrufen: ‹Bitte, reiche mir Wasser!› Oder: ‹Halt! laß das Licht doch brennen!› Es ist eine Augenblicksbitte, etwas Eiliges, Unbeaufsichtigtes und nichts weiter. Ich sage: ‹nichts weiter›, aber weiß doch: es ist nichts weniger als liefe eine Göttin einem Autobus nach, damit er sie noch mitnehme! Eine unmystische Gangart, ein Zusammenbruch des Wahnwitzes! An solchen kleinen Erlebnissen wird es deutlich, wie sehr unser Zustand eine bestimmte einzige Gemütslage zur Voraussetzung hat und augenblicklich umkippt, wenn man sie aus dem Gleichgewicht bringt.
    Und doch machen solche Augenblicke erst recht glücklich. Wie schön ist Agathes Stimme! Welches Vertrauen liegt in einer solchen ganz kleinen Bitte, die mitten in einem hohen und feierlichen Zusammenhang auftritt! Sie ist rührend, wie es zwischen einem Strauß kostbarer Blumen ein Wollfaden ist, der vom Kleid der Geliebten hängen geblieben ist, oder ein vorstehendes Stückchen Draht, für das die Hände der Binderin zu schwach waren. In solchen Augenblicken weiß man genau, daß man sich überschätzt, und doch erscheint alles, was mehr ist als man selbst, erscheinen alle Gedanken der Menschheit wie ein Spinngewebe; der Körper gleicht dann einem Finger, der es in jeder Sekunde zerreißt und an dem ein wenig davon haften bleibt.
    Soeben habe ich gesagt: die Hände der Binderin, und habe mich dem Schaukelgefühl eines Gleichnisses überlassen, als könnte diese Frau niemals eine fettleibige ältere Person sein. Das ist Mondschein von der falschen Sorte! Und deshalb habe ich auch Agathe eher einen methodischen Vortrag gehalten als eine unmittelbare Antwort gegeben. Aber eigentlich habe ich ihr nur das Leben beschrieben, das mir vorschwebt. Ich will das wiederholen, und, wenn ich kann, verbessern.
    In der Mitte steht etwas, das ich Motivation genannt habe. Im gewöhnlichen Leben handeln wir nicht nach Motivation, sondern nach Notwendigkeit, in einer Verkettung von Ursache und Wirkung; allerdings kommt immer in dieser Verkettung auch etwas von uns selbst vor, weshalb wir uns dabei für frei halten. Diese Willensfreiheit ist die Fähigkeit des Menschen, freiwillig zu tun, was er unfreiwillig will. Aber Motivation hat mit Wollen keine Berührung; sie läßt sich nicht nach dem Gegensatz von Zwang und Freiheit einteilen, sie ist tiefster Zwang und höchste Freiheit. Ich habe das Wort gewählt, weil ich kein besseres fand; es ist wohl verwandt mit dem Ausdruck Motiv der Malersprache. Wenn ein Landschaftsmaler des Morgens mit der Absicht auszieht, ein Motiv zu suchen, so wird er es meist finden, das heißt, etwas, das seine Absicht erfüllt; doch muß man richtiger sagen, das in seine Absicht paßt – so wie ein Wort in jeden Mund paßt, wenn es bloß nicht zu groß ist. Denn etwas, das erfüllt, das ist etwas Seltenes, es überfüllt sogleich, strömt über die Absicht und

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