Gesammelte Werke
Götter waren Doppelwesen, und wir haben das verlernt, aber wir sind auch Doppelwesen.»
Nach einer Weile sagte Walter: «Du übertreibst. Natürlich ist der Gott, wenn er Männer tötet, ein anderer, als wenn er musiziert –»
«Das ist gar nicht natürlich» versetzte ihm Clarisse. «Du wärst der gleiche! Du wärst nur verschieden erregt. Ein wenig bist du auch hier im Wald und dort im Zimmer verschieden, aber du bist kein anderer. Ich könnte sagen, du verwandelst dich niemals vollständig in das, was du tust; aber ich möchte nicht zu viel sagen. Wir haben die Begriffe für diese Vorgänge verloren. Die Alten hatten sie noch, die Griechen, das Volk Nietzsches!»
«Ja,» sagte Walter «vielleicht; vielleicht könnte man ganz anders sein, als wir sind.» Und dann schwieg er. Knickte ein Zweiglein. Sie lagen jetzt beide auf dem Boden, mit den Köpfen einander zugewandt. Schließlich fragte Walter: «Was für ein Doppelwesen bin ich denn?»
Clarisse lachte.
Er nahm seinen Zweig und kitzelte sie am Gesicht.
«Du bist Bock und Adler» sagte sie und lachte wieder.
«Ich bin doch kein Bock!» verwahrte sich Walter schmollend.
«Du bist ein Bock mit Adlerflügeln!» ergänzte Clarisse ihre Behauptung.
«Hast du das jetzt im Augenblick erfunden?» fragte Walter.
Es war ihr erst im Augenblick eingefallen, aber sie durfte etwas hinzufügen, was sie schon lange wußte: «Jeder Mensch hat ein Tier, in dem er sein Schicksal erkennen kann. Nietzsche hatte den Adler.»
«Du meinst vielleicht, was man Totem nennt. Weißt du, daß noch bei den Griechen die Götter bestimmte Begleittiere hatten: den Wolf, den Stier, die Gans, den Schwan, den Hund ...»
«Siehst du!» sagte Clarisse. «Das habe ich gar nicht gewußt, aber es ist wahr.» Und plötzlich fügte sie hinzu: «Weißt du, daß die Kranken Schweinereien machen? Ebensolche wie damals der Mann, der unter mein Fenster gekommen war!» Und sie erzählte ihm die Geschichte mit dem Alten im Krankensaal, der ihr entgegengewinkt und sich dann so unanständig betragen hatte.
«Eine schöne Geschichte, das, und noch dazu vor dem General!» wandte Walter mit Eifer ein. «Du darfst wirklich nicht wieder hingehn!»
«Aber ich bitte dich, der General hat doch bloß Angst vor mir!» verteidigte sich Clarisse.
«Warum sollte er denn Angst haben?»
«Das weiß ich nicht. Aber du hast ja auch Angst, und Vater hatte Angst, und Meingast hat auch Angst vor mir» sagte Clarisse. «Wahrscheinlich besitze ich eine verdammte Kraft, so daß sich Männer, mit denen etwas nicht in Ordnung ist, mir anbieten müssen. Und kurz und gut, ich sage dir, die Kranken sind Doppelwesen aus Gott und Bock!»
«Ich habe Angst um dich!» flüsterte Walter mehr, leise und zärtlich, als daß er es sagte.
«Die Kranken sind aber nicht nur Doppelwesen aus Gott und Bock, sondern auch aus Kind und Mann und aus Trauer und Heiterkeit» fuhr Clarisse fort, ohne sich darum zu kümmern.
Walter schüttelte den Kopf. «Alle Männer hängen bei dir mit ‹Bock› zusammen?!»
«Gott, das ist schon so!» Clarisse verteidigte es ruhig. «Ich selbst trage doch auch die Figur des Bocks in mir!»
«Die Figur!» höhnte Walter ein wenig, aber unwillkürlich; denn das dauernde Wechseln der Vorstellungen machte ihn müde.
«Das Bild, das Vorbild, den Dämon – nenn es, wie du willst!»
Walter bedurfte einer Rast, er wünschte einen Abschnitt zu machen, er erwiderte: «Übrigens gebe ich zu, daß man in vieler Hinsicht wirklich ein Doppelwesen ist. Die neuere Psychologie –»
Clarisse unterbrach ihn heftig: «Nicht Psychologie! Ihr alle denkt viel zuviel!»
«Aber du hast doch behauptet, daß die Irren noch mehr denken als wir Gesunde?!» fragte Walter unwillkürlich.
«Dann habe ich es falsch gesagt. Sie denken anders. Energischer!» erwiderte sie und fuhr fort: «Es ist doch überhaupt gleichgültig, was man sich denkt; sobald man handelt, wird es gleichgültig, was man zuvor gedacht hat. Darum finde ich es richtig, nicht mehr zu reden, sondern zu den Irren in ihr Haus zu gehn.»
«Einen Augenblick!» bat Walter. «Welches Doppelwesen ist das deine?»
«Ich bin in erster Linie Mann und Frau!»
«Soeben hast du aber noch Bock gesagt?»
«Auch. Auch! Das läßt sich nicht mit Zirkel und Lineal bestimmen.»
«Nein, so geht das nicht!» stöhnte Walter nun plötzlich auf, bedeckte die Augen mit den Händen und ballte die Hände zu Fäusten. Als er verstummt so liegen blieb, kroch Clarisse an ihn heran,
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