Gesammelte Werke
gefesselt sieht. «Was soll ich darunter verstehen? Wie erklärt man diesen Vulgärbegriff der Suggestion, den ich so geläufig gebrauche wie alle, ohne ihn zu verstehn? Ich habe heute darüber nachgelesen» trug Ulrich auf einem Zettel ein. «Die Sprache der Tiere besteht aus Affektäußerungen, die in den Genossen die gleichen Affekte hervorrufen. Warnruf, Futterruf, Liebesruf. Ich darf wohl hinzufügen, daß sie nicht nur den gleichen Affekt, sondern unmittelbar auch das zu ihm gehörige Handeln wecken und durchdringen. Der Schreck-, der Liebesruf fährt in die Glieder! Dein Wort ist in mir und bewegt mich: wäre das Tier ein Mensch, so empfände es dabei eine geheimnisvolle körperlose Vereinigung! Diese affektive Suggestibilität soll aber auch beim Menschen noch vollständig vorhanden sein, trotz der entwickelten Verstandessprache. Der Affekt steckt an: Panik, Gähnen. Er ruft leicht die zu ihm passenden Vorstellungen hervor; ein froher Mensch macht fröhlich. Er greift auch auf unpassende Träger über; das kommt in allen Abstufungen vor, von der Albernheit eines Liebespfands bis zu den irrenhausreifen Einfällen der vollen Liebestollheit. Der Affekt versteht es aber auch auszuschließen, was nicht zu ihm paßt, und ruft auf beide Weisen jenes nachhaltige einheitliche Verhalten des Menschen hervor, das dem Zustand der Suggestion die Kraft fixer Ideen gibt. Hypnose ist nur ein Sonderfall dieser allgemeinen Beziehungen. Diese Erklärung gefällt mir, und ich mache sie mir zu eigen. Ein eigenartig nachhaltiges, einheitliches Verhalten, das uns von der Ganzheit des Lebens aber absperrt: das ist unser Zustand!»
Solche Zettel begann Ulrich nun viele zu schreiben. Sie bildeten eine Art Tagebuch, mit dessen Hilfe er seinem Kopf die Klarheit zu bewahren suchte, die er bedroht fühlte. Gleich nachdem er aber die erste seiner Aufzeichnungen zu Papier gebracht hatte, fiel ihm noch diese zweite ein: «Was ich Großmut genannt habe, ist vielleicht auch mit Suggestion verwandt. Indem sie das übergeht, was nicht zu ihr gehört, und das, was ihr dient, an sich reißt, ist sie großmütig.» Als das geschehen war, erschienen ihm natürlicherweise seine Bemerkungen bei weitem nicht so bedeutungsvoll wie vor ihrer Niederschrift, und er ging noch einmal daran, ein unbezweifelbares Merkmal des Zustands zu suchen, in dem er sich mit seiner Schwester befände. Abermals fand er es darin, daß Denken wie Gefühl in gleichem Sinn verändert seien und nicht nur merkwürdig übereinstimmten, sondern sich auch als etwas Einseitiges, ja fast Hangendes und Süchtiges von dem gewöhnlichen Zustande abhöben, worin sich ohneweiters Strebungen und Einfälle jeder Art mischen. Waren ihre Gespräche im rechten Schwang – und dafür war die Empfindlichkeit überaus groß –, so machten sie niemals den Eindruck, daß ein Wort ein anderes erzwinge oder eine Handlung die nächste nach sich ziehe, sondern den, daß im Geist etwas erweckt werde, als dessen höhere Stufe dann die Antwort folge. Jede Bewegung des Gemüts wurde zur Entdeckung einer neuen noch schöneren Bewegung, wobei sie sich gegenseitig halfen, auf welche Weise der Eindruck einer nicht endenden Steigerung und der einer sich ohne Senkung hebenden Aussprache entstand. Niemals schien das letzte Wort gesprochen werden zu können, denn jedes Ende war ein Anfang und jedes letzte Ergebnis das erste einer neuen Eröffnung, so daß jede Sekunde wie die aufgehende Sonne strahlte, aber zugleich die friedevolle Vergänglichkeit der untergehenden mit sich brachte. «Wäre ich ein Gottgläubiger, so fände ich jetzt darin die Bestätigung für die schwer verständliche Behauptung, daß uns seine Nähe ebenso eine unaussprechliche Erhöhung wie unsere niederdrückende Ohnmacht fühlen läßt!» zeichnete Ulrich auf.
Er entsann sich, in früher Zeit, bei Antritt seines geistigen Lebens glühenden Sinnes die Beschreibung ähnlicher Empfindungen in allerhand Büchern gelesen zu haben, die er niemals auslas, weil ihn Ungeduld und zur Eigenmächtigkeit drängender Wille daran hinderten, obwohl er sich von ihnen ergriffen fühlte, ja gerade deshalb. Er hatte dann auch nicht so gelebt, wie es zu erwarten gewesen wäre, und als es jetzt geschah, daß er einige dieser Bücher wieder vornahm, denn das war etwas, was er nun gerne tat, kam ihm, die alten Zeugnisse wiederzusehen, so vor, als träte er still durch eine Türe bei sich ein, die er einst hochmütig zugeschlagen hatte. Sein Leben schien
Weitere Kostenlose Bücher