Gesammelte Werke
Soldat darf sich durch nichts abschrecken lassen, und so gelang es General Stumm von Bordwehr als dem einzigen, zu Ulrich und Agathe vorzudringen; vielleicht war er aber auch der einzige, dem sie es nicht ganz unmöglich gemacht hatten, da denn auch Weltflüchtlinge vorsehen können, daß ihnen aller vierzehn Tage die Post nachkommt. Und als er sie jetzt durch seinen Eintritt in der Fortsetzung ihres Gesprächs störte, rief er befriedigt aus: «Leicht ist es nicht gewesen, alle Hindernisse des Vorfelds zu überwinden und in die Hauptstellung einzudringen!» küßte Agathe ritterlich die Hand und wandte sich besonders an sie mit den Worten: «Ich werde ein berühmter Mann sein, bloß weil ich Sie gesehen habe! Alle Welt fragt, welches Ereignis die Unzertrennlichen verschlungen habe, verlangt nach Ihnen, und ich bin gewissermaßen der Beauftragte der Gesellschaft, ja des Vaterlands, die Ursache Ihres Verschwindens zu entdecken! Ich bitte, mich damit zu entschuldigen, falls ich zudringlich erscheinen sollte!»
Agathe hieß ihn willkommen, wie es sich gehört; aber weder sie noch ihr Bruder vermochten sogleich, ihre Geistesabwesenheit vor ihrem Besucher zu verbergen, der als die verkörperte Schwäche und Unvollständigkeit ihrer Träume vor ihnen stand; und als General Stumm wieder von Agathe zurückgetreten war, setzte eine merkwürdige Stille ein. Agathe stand an der einen Langseite des Tisches, Ulrich an der anderen, und der General, wie ein von plötzlicher Windstille befallenes Segelschiff, ungefähr in der Mitte des Wegs zwischen ihnen beiden. Ulrich war im Begriff, seinem Besucher entgegen zu gehn, kam aber nicht von der Stelle. Stumm bemerkte jetzt, daß er wirklich gestört habe, und überlegte, wie er die Lage retten könnte. Auf allen drei Gesichtern lag der verzerrte Ansatz eines freundlichen Lächelns. Diese steife Stille dauerte kaum den Teil eines Augenblicks; doch gerade da fiel Stumms Blick auf das kleine Pferdchen aus Papiermasse, das vereinsamt wie ein Monument zwischen ihnen allen in der Mitte des leeren Tisches stand.
Die Hacken zusammenziehend, wies er mit der flachen Hand feierlich darauf und rief erleichtert aus: «Aber was ist denn das?! Ich gewahre in diesem Hause den großen Tiergötzen, das heilige Tier, das angebetete Idol der Reiterei?!»
Bei dieser Bemerkung Stumms löste sich auch Ulrichs Befangenheit, und nun auf ihn zueilend, sich aber doch auch an seine Schwester wendend, versicherte er lebhaft: «Es ist zwar ein Wagenpferd, aber im übrigen hast du es wunderbar erraten! Wir sprechen nämlich wirklich gerade von Idolen und ihrer Entstehung. Und nun sage einmal: Was liebt man, welchen Teil, welche Umformung und Verklärung liebt man, wenn man seinen Nächsten liebt, ohne ihn zu kennen? Inwiefern ist die Liebe also abhängig von der Welt und Wirklichkeit, und inwiefern verhält es sich umgekehrt?»
Stumm von Bordwehr hatte seinen Blick fragend auf Agathe gerichtet.
«Ulrich spricht von diesem kleinen Ding hier» versicherte sie etwas betreten und wies auf das Konditorpferdchen. «Er hat früher einmal eine Leidenschaft dafür gehabt.»
«Das ist aber hoffentlich schon recht lange her» äußerte sich Stumm verwundert. «Denn wenn ich nicht irre, ist es doch eine Bonbonniere!?»
«Das ist keine Bonbonniere!» beschwor ihn Ulrich, der von der lästerlichen Lust gepackt wurde, sich mit ihm darüber zu unterhalten. «Freund Stumm! Wenn du dich in ein Sattelzeug verliebst, das dir zu teuer ist, oder in eine Uniform oder in ein Paar Reitstiefel, die du in einer Auslage siehst: was liebst du da?»
«Du redest schamlos! So etwas liebe ich nicht!» verwahrte sich der General.
«Leugne nicht!» versetzte Ulrich. «Es gibt Leute, die Tag und Nacht von einem Kleiderstoff oder einem Reisekoffer träumen können, den sie in einer Auslage gesehen haben; und ein wenig davon hat jeder schon kennen gelernt; und auch dir ist es zumindest mit deiner ersten Leutnantsuniform so ergangen! Und da wirst du wohl zugeben, daß dieser Stoff oder Koffer unbrauchbar sein kann und daß man auch gar nicht in der Lage zu sein braucht, ihn wirklich begehren zu können: also ist keine Erfahrung leichter zu machen als die, daß man etwas liebt, ehe man es kennt und ohne es zu kennen. Darf ich dich übrigens daran erinnern, daß du Diotima gleich auf den ersten Blick geliebt hast?!»
Diesmal blickte der General pfiffig auf. Agathe hatte ihm mittlerweile Platz angeboten und hatte ihn auch mit einer Zigarre
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