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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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geraten. Warum komme ich auf die Bezeichnungen ‹positiv› und ‹negativ›? Ich erinnere mich unerwartet an einen Tag, wo ich auch vor einem Papier saß und den Versuch machte zu schreiben, – damals hätte es ein Brief an Agathe werden sollen. Und allmählich entsinne ich mich: Ein Zustand des ‹Tu!› und einer des ‹Tu nicht!› als die beiden Mischungsbestandteile jeder Moral, das ‹Tu› in ihrem Aufstieg vorwaltend, das ‹Tu nicht› während ihrer gesättigten Herrschaft, – ist dieses Verhältnis von ‹Forderung› und ‹Verbot› nicht das gleiche, was ich heute positiv und negativ nenne? Die Beziehung zwischen Agathe und mir dadurch gekennzeichnet, daß alles Forderung ist und nichts Verbot? Ich erinnere mich, daß ich damals von Agathes leidenschaftlicher, bejahender Güte gesprochen habe, die in einer Zeit, wo man so etwas nicht mehr versteht, wie ein uraltes Laster aussieht. Ich habe gesagt: es ist wie Heimkehr nach längster Zeit und das Wasser aus dem Brunnen seines Dorfes zu trinken! Und Forderung heißt natürlich nicht, daß wir fordern, sondern daß alles, was wir tun, das Höchste von uns fordere.
    Den Kreis des Bedeutenden nicht zu verlassen, wäre also das gleiche wie ein Leben in reiner Positivität? Ich erschrecke beinahe bei dem Gedanken, daß es auch das gleiche ist wie ‹wesentlich leben›, obwohl ich das erwarten mußte. Denn was sollte wesentlich anderes bedeuten? Das Wort kommt wohl aus der Mystik oder Metaphysik und bezeichnet den Gegensatz zu allem irdischen friedelosen und zweifelvollen Geschehen; aber seit wir uns vom Himmel getrennt haben, lebt es auf Erden als die Sehnsucht, unter tausenden moralischen Überzeugungen die einzige zu finden, die dem Leben einen Sinn ohne Wandel gibt. Gespräche ohne Ende zwischen mir und Agathe darüber! Ihr jugendliches Verlangen nach moralischer Belehrung neben dem Trotz, worin sie Hagauer töten wollte und ihn wenigstens am Besitz wirklich geschädigt hat! Und das gleiche Suchen nach Überzeugung allenthalben in der Welt; die Ahnung, daß der Mensch nicht ohne Moral leben kann, und die tiefe Beunruhigung darüber, daß seine eigenen Gefühle eine jede zersetzen! Worin liegt die Möglichkeit eines ‹ganzen› Lebens, einer ‹vollen› Überzeugung, einer Liebe, die ohne jede Beteiligung von Nichtliebe, ohne einen Rest von Selbst- und Ichsucht ist? Das heißt doch: nur positiv leben. Und es heißt: kein Geschehen ohne ‹Bedeutung› zulassen wollen, jedesmal wenn ich von einem ‹nie endenden Zustand› im Gegensatz zur ‹ewigen vergeblichen Augenblicklichkeit› unseres üblichen Handelns spreche oder von der Zuordnung jedes Augenblickszustands zu einem ‹Dauerzustand› des Gefühls, die uns die ‹Verantwortlichkeit› wiedergibt. Ich könnte seitenlang in der Wiederholung solcher Ausdrücke fortfahren, die das, was wir meinten, von irgendeiner Seite bezeichneten. Wir haben das als ‹wesenhaft leben› zusammengefaßt, und auch von anderen so zusammenfassen hören, immer etwas in Verlegenheit wegen des schwülstig-übersinnlichen Beiklangs, den dieses Wort hat, aber wir besaßen keines, das einfacher zu gebrauchen war. Es ist also wohl keine geringe Überraschung, wenn ich das, was ich in den Wolken suchte, mit einemmal beinahe in meiner Hand finde!
    Allerdings gehört es zu den Eigentümlichkeiten unseres Zustands, daß jede neue Betrachtung alle älteren in sich aufnimmt, so daß es unter ihnen keine Rangfolge gibt, sie scheinen vielmehr unendlich verstrickt zu sein. Ich könnte fortfahren und unseren Zustand ebensogut großmütig nennen, das habe ich überdies vor Tagen schon getan, wie ich ihn auch als schöpferisch zu kennzeichnen vermöchte, denn Schaffen und Schöpfung ist nur möglich in einem durch und durch positiven Verhalten, und so stimmt auch das überein; schließlich wäre ein solches Leben, wo jeder Augenblick so bedeutend wie möglich, sein soll, auch noch jenes ‹Leben im Sinne der maximalen Forderung›, das ich mir manchmal als die seelische Ergänzung zu der wortkargen Entschlossenheit der wirklichen Wissenschaft vorgestellt habe. Aber ob maximal, großmütig, schöpferisch oder bedeutsam, wesenhaft oder ganz, wie mache ich es, daß meine Empfindungen für Professor Lindner so seien? Das ist die Frage, zu der es zurückzukehren heißt, das Experimentum crucis, der Kreuzweg! Mir fällt ein, daß ich ihm die Möglichkeit abgesprochen habe, an Agathe teilzunehmen. Warum? Weil Teilnahme, ja schon

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