Gesammelte Werke
versorgt, weil ihr Bruder seiner Pflicht vergaß; er war von blauen Wölkchen umsäumt und sagte unschuldig: «Sie ist seither ein Lehrbuch der Liebe geworden, und Lehrbücher habe ich schon auf der Schule nicht so recht geliebt. Aber ich bewundere und achte diese Frau noch immer» fügte er mit einer würdigen Gelassenheit hinzu, die neu an ihm war.
Ulrich beachtete sie leider nicht gleich. «Alles das sind Idole» fuhr er fort, seine an Stumm gerichteten Fragen zu entwickeln. Und nun siehst du deren Entstehung. Die in unsere Natur gelegten Triebe brauchen nur ein Mindestmaß an äußerer Begründung und Rechtfertigung; sie sind ungeheure Maschinen, die sich durch einen kleinen Schalter in Bewegung setzen lassen. Sie statten dafür den Gegenstand, dem sie gelten, aber auch nur so weit mit Vorstellungen aus, die einer Prüfung standhalten könnten, als es etwa dem Flackern von Licht und Schatten im Schein einer Notbeleuchtung entspricht –»
«Halt!» bat Stumm aus der Dampfwolke. «Was ist ‹Gegenstand›? Sprichst du jetzt wieder von den Stiefeln und dem Koffer?»
«Ich spreche von der Leidenschaft. Von der Sehnsucht nach Diotima gerade so wie von der nach der verbotenen Zigarette. Ich möchte dir deutlich machen, daß jedes affektive Verhältnis zuerst durch vorläufige Wahrnehmungen und Vorstellungen angebahnt wird, die der Wirklichkeit angehören; daß es sogleich aber auch selbst Wahrnehmungen und Vorstellungen hervorruft, die es in seiner Weise ausstattet. Kurz, der Affekt rückt sich den Gegenstand zurecht, wie er ihn braucht, ja erschafft ihn, so daß er schließlich einem Gegenstand gilt, der, auf solche Art zustandegekommen, nicht mehr zu erkennen wäre. Aber er ist ja auch nicht für die Erkenntnis bestimmt, sondern eben für eine Leidenschaft! Dieser aus der Leidenschaft entstehende und in ihr schwebende Gegenstand» schloß Ulrich nun, zum Anfang zurückkehrend «ist natürlich etwas anderes als der Gegenstand, an den sie sich äußerlich heftet und nach dem sie greifen kann, und das gilt also auch von der Liebe. Ich liebe ‹dich›, ist eine Verwechslung; denn ‹dich›, diese Person, von der die Leidenschaft hervorgerufen wird und die man mit Armen greifen kann, glaubt man zu lieben, und die von der Leidenschaft hervorgerufene Person, dieses wildreligiöse Gebilde, liebt man wirklich, aber sie ist eine andere.»
«Wenn man dich hört,» unterbrach Agathe ihren Bruder mit einem Vorwurf, der ihre innere Teilnahme verriet «so sollte man meinen, daß man die wirkliche Person nicht wirklich liebt und eine unwirkliche wirklich –!»
«Genau das habe ich sagen wollen, und ähnliches habe ich auch schon von dir gehört.»
«Aber in Wirklichkeit sind die beiden schließlich doch eins!»
«Das ist ja gerade die Hauptverwicklung, daß die der Liebe vorschwebende Person in jeder äußeren Beziehung von der wirklichen Person vertreten werden muß, ja mit ihr eins ist. Dadurch kommt es zu allen den Verwechslungen, die dem einfachen Geschäft der Liebe etwas so anregend Gespenstisches verleihen!»
«Vielleicht wird aber auch die wirkliche Person erst in der Liebe ganz wirklich? Vielleicht ist sie vorher nicht vollständig?!»
«Aber der Stiefel oder Reisekoffer, von dem man träumt, ist in Wirklichkeit doch kein anderer als der, den man auch kaufen könnte!»
«Vielleicht entsteht auch der Reisekoffer erst zu Ende, wenn man ihn liebt!»
«Mit einem Wort, man kommt zu der Frage, was wirklich sei. Die alte Frage der Liebe!» rief Ulrich ungeduldig und doch befriedigt aus.
«Ach, lassen wir den Reisekoffer!» Es war zum Erstaunen der beiden die Stimme des Generals, die ihr Scheingefecht unterbrach. Stumm hatte behaglich ein Bein über das andere gezwängt, was ihm, wenn es einmal gelungen war, große Sicherheit verlieh. «Bleiben wir bei der Person» fuhr er fort und lobte Ulrich: «Du hast bis jetzt manches wieder hervorragend schön gesagt! Die Menschen glauben ja immer, daß nichts einfacher ist, als einander zu lieben, und dann muß man ihnen jeden Tag vorhalten: ‹Verehrteste, das ist nicht so einfach, wie bei der Äpfelfrau!›» Höflich wandte er sich zur Erklärung dieses mehr militärischen als zivilen Ausdrucks an Agathe: «Die Äpfelfrau, Gnädigste, zitiert man bei uns, wenn einer sich etwas leichter vorstellt, als es ist. In der Höheren Mathematik, zum Beispiel, wenn beim abgekürzten Dividieren einer gleich so stark abkürzt, daß er, mir nichts, dir nichts, bei einem falschen
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