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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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übrigen Psychologie; aber Ulrich sagte, er ließe sie nicht deshalb beiseite, weil er die Verdienste dieser bedeutenden Theorie nicht anerkenne, die voll neuer Begriffe wäre und als erste vieles zu erfassen gelehrt habe, was durch alle vorangegangene Zeit gesetzlose Privaterfahrung gewesen sei, sondern es hänge damit zusammen, daß gerade bei dem, was er vorhabe, ihre Eigenart nicht so zur Geltung komme, wie es ihres immerhin auch sehr anspruchsvollen Selbstbewußtseins würdig wäre. Als sein Vorhaben aber bezeichnete er es, zunächst die vorhandenen Hauptantworten auf die Frage, was Gefühl sei, miteinander zu vergleichen, und fuhr fort, daß sich im ganzen wohl nur drei unterscheiden ließen, von denen übrigens keine so klar ausgebildet worden sei, daß sie die anderen ganz unmöglich gemacht hätte.
    Dann schlossen sich die folgenden Aufzeichnungen an, die das ausführen sollten: «Die älteste, aber noch heute recht regsame Vorstellungsbildung geht von der Überzeugung aus, daß zwischen dem Zustand des Fühlens, seinen Ursachen und seinen Wirkungen deutlich getrennt werden könne; denn sie versteht unter Gefühl eine Gattung innerer Erlebnisse, die sich von den anderen Gattungen – und zwar sind dies nach ihr das Empfinden, Denken und Wollen – bis in den Grund unterscheide. Diese Auffassung ist volkstümlich und seit alters überliefert, und es liegt ihr nahe, das Gefühl als einen Zustand anzusehen; zwar muß das nicht sein, aber es geschieht unter dem ungewissen Eindruck der Wahrnehmung, daß wir in jedem Augenblick des Gefühls, und inmitten seiner beweglichen Veränderung, nicht nur unterscheiden können, daß wir fühlen, sondern es auch als etwas scheinbar Ruhendes erleben, daß wir im Zustand eines Gefühls beharren.
    Die neuere Vorstellungsbildung geht dagegen von der Beobachtung aus, daß das Fühlen aufs innigste mit dem Handeln und dem Ausdruck verbunden ist; und es folgt daraus, daß sie sowohl dazu neigt, das Gefühl als einen Vorgang zu betrachten, als auch, daß sie ihren Blick nicht auf das Fühlen allein richtet, sondern es mitsamt seinen Äußerungen und seinen Ursprüngen als ein Ganzes ansieht. Sie ist zuerst in der Physiologie und Biologie entstanden, und ihr Bestreben ist ursprünglich auf eine körperliche Erklärung der seelischen Vorgänge gerichtet gewesen, oder schärfer betont, auf das körperliche Ganze, dem auch seelische Erscheinungen unterlaufen. Man kann, was sich daraus ergeben hat, als zweite Hauptantwort auf die Frage nach der Natur des Gefühls zusammenfassen.
    Eine Richtung der Wißbegierde auf das Ganze statt auf das Element und auf die Wirklichkeit statt auf einen vorgefaßten Begriff unterscheidet aber auch die neueren psychologischen Untersuchungen, die sich mit dem Gefühl beschäftigen, von den älteren, nur sind ihre Absichten und leitenden Gedanken natürlich ihrer eigenen Wissenschaft entnommen. Dadurch ergeben sie eine dritte Antwort auf die Frage, was Gefühl sei, die sich sowohl auf den anderen aufbaut als auch selbständig ist. Diese dritte Antwort gehört aber allermaßen nicht mehr in einen Rückblick, weil mit ihr schon der Einblick in die Vorstellungsbildung beginnt, die gegenwärtig im Gange ist oder möglich erscheint.
    Ich will hinzufügen, denn ich habe vorhin auch die Frage erwähnt, ob das Gefühl ein Zustand oder ein Vorgang sei, daß in Wahrheit diese Frage in der angedeuteten Entwicklung so gut wie keine Rolle spielt, es sei denn die einer allen Auffassungen gemeinsamen und vielleicht nicht ganz gegenstandslosen Schwäche. Stelle ich mir ein Gefühl, wie es nach älterer Art nahezuliegen scheint, als etwas Beständiges vor, das nach außen und innen wirkt, und auch von beiden Seiten Rückwirkung empfängt, so habe ich offenbar nicht bloß ein Gefühl vor mir, sondern eine unbestimmte Anzahl wechselnder Gefühle. Die Sprache stellt zwar für diese Unterarten eines Gefühl selten eine Mehrzahl zur Verfügung, sie kennt keine Neide, Zörner oder Trotze, für sie sind das die Abwandlungen eines Gefühls in verschiedenen Spielarten oder in verschiedenen Zuständen seiner Entwicklung; aber ohne Frage deutet auch eine Folge von Zuständen ebenso gut wie eine Folge von Gefühlen auf einen Vorgang hin. Glaubt man hingegen, wie es dem entspräche und auch der heutigen Auffassung näherzuliegen scheint, einen Vorgang vor sich zu haben, so ist wieder der Zweifel, was dann ‹eigentlich› Gefühl sei und wo etwas aufhöre, zu ihm selbst, und anfange, zu

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