Gesammelte Werke
jetzt die Gefahr entstanden, daß er etwas Neues anfangt!» ergänzte es der General.
«Aber was kannst denn du dagegen tun?!» fragte Ulrich neugierig.
«Gott! Ich hab’ halt die Aufgabe bekommen, ihn ein bissel abzulenken und zu beschäftigen, und wenn du willst, auch ein bissel zu beaufsichtigen –»
«Also: ein Referat ‹L›? Du trügerisches Himmelblau!»
«Unter uns kannst du es ja so nennen, aber einen dienstlichen Namen hat es natürlich nicht. Ich habe einfach den Auftrag, mich dem Leinsdorf « – diesmal wollte Stumm den Namen doch auch mitgenießen, flüsterte ihn aber wieder – «an den Hals zu setzen wie eine Zecke: das sind die eigenen huldvollen Worte Seiner Exzellenz!»
«Aber er muß dir doch auch ein Ziel gegeben haben, das du erreichen sollst?»
Der General lachte. «Reden! Ich soll mit ihm reden. Auf alles eingehn, was er sich denkt, und so viel darüber reden, daß er sich womöglich auf diese Weise verausgabt und nichts Unvorhergesehenes tut. ‹Saug ihn aus› hat Seine Exzellenz gesagt und hat das einen sehr ehrenvollen Vertrauensbeweis und Auftrag genannt. Und wenn du mich noch fragen solltest, ob das alles ist, so kann ich dir nur erwidern: es ist sehr viel! Diese alte Erlaucht ist ungeheuer gebildet und eigentlich ein hervorragend interessanter Mensch!» Er hatte dem Kutscher das Zeichen zum Losfahren gegeben und rief zurück: «Alles andere das nächste Mal! Ich rechne auf dich!»
Und erst als der Wagen davonrollte, kam Ulrich der Einfall, daß Stumm vielleicht auch die Absicht haben könnte, ihn selbst unschädlich zu machen, den man früher verdächtigt hatte, daß er den Geist des Grafen Leinsdorf einmal noch zu einem ganz ungewöhnlichen Einfall verleiten könnte.
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Naive Beschreibung, wie sich ein Gefühl bildet
Von den folgenden Blättern hatte Agathe noch einen großen Teil gelesen. Sie enthielten zunächst noch nicht die versprochene Darlegung der Entwicklung, die der Begriff des Gefühls gegenwärtig mitmacht; denn ehe sich Ulrich von diesen Auffassungen Rechenschaft gab, aus denen er den meisten Gewinn zu ziehen hoffte, hatte er sich, nach seinen eigenen Worten, «das Entstehen und Wachstum eines Gefühls so naiv und mit grobem Finger buchstabierend vorzustellen» getrachtet, «wie es einem geistig nicht ungeübten Laien erscheinen mag.»
Und diese Aufzeichnung fuhr folgendermaßen fort: «Man pflegt das Gefühl als etwas anzusehen, das Ursachen und Folgen hat, und ich will mich darauf beschränken, daß die Ursache ein äußerer Reiz sei. Natürlich gehören aber zu diesem Reiz auch geeignete Umstände, das heißt sowohl passende äußere Umstände als auch innere, eine innere Bereitschaft, und erst diese Dreiheit entscheidet darüber, ob und wie er beantwortet wird. Denn ob sich ein Gefühl überraschend oder verzögert einstellt, wie es sich ausbreitet und abläuft, welche Ideen es mit sich bringt, und überhaupt welches Gefühl es ist, hängt gewöhnlich nicht minder von dem Vorzustand des Fühlenden und der Umwelt als vom Reiz ab. Von dem persönlichen Zustand des Fühlenden, also von Temperament, Charakter, Alter, Erziehung, von den Anlagen, Grundsätzen, vorangegangenen Erlebnissen und vorhandenen Spannungen, gilt das wohl als selbstverständlich, obwohl diese Bedingungen keine genaue Grenze haben und sich in das Wesen der Person und ihres Schicksals verlieren. Aber auch die äußere Umgebung, ja schon ein Wissen von ihr oder bloß ihre stillschweigende Voraussetzung können ein Gefühl unterdrücken oder begünstigen, und das gesellige Leben bietet unzählige Beispiele dafür dar, denn in jeder Lage gibt es Gefühle, die sich schicken oder nicht schicken, auch wechselt es mit den Landstrichen und der Zeit, welche Gefühlsgruppen im öffentlichen und im Eigenleben vorherrschen, oder doch begünstigt werden, und welche unterdrückt werden, ja sogar schlechthin gefühlvolle und gefühlarme Zeiten haben einander schon abgelöst.
Zu alledem kommt dann noch hinzu, daß äußere und innere Umstände, ja auch diese und der Reiz, wie sich leicht ermessen läßt, nicht unabhängig von einander sind. Denn der innere Zustand ist dem äußeren und seinen Gefühlsreizen angepaßt gewesen, war also auch von ihnen abhängig, und der äußere muß auf irgendeine Weise aufgenommen worden sein, so daß seine Erscheinung von dem inneren Zustand abhing, ehe eine Störung dieses Gleichgewichts ein neues Gefühl hervorruft und dieses einen neuen Ausgleich entweder
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