Gesammelte Werke
haben müßte; und anderseits besitzen ja auch wir nicht die wahre Wirklichkeit, sondern können bloß in einem unendlichen Vorgang unsere Vorstellungen von ihr verbessern, während wir im Drang des Lebens sogar Vorstellungen von recht verschiedener Tiefe nebeneinander benutzen, wie es Ulrich selbst im Verlauf dieser Stunde am Beispiel eines Tisches und einer schönen Frau vorgefunden hatte. Nachdem er sich das aber ungefähr so überlegt hatte, war Ulrich auch seiner Unruhe wieder ledig und beschloß, daß es genug sei; denn was immer da noch gesagt werden konnte, war nicht ihm vorbehalten und auch nicht dieser Stunde. Er überzeugte sich bloß noch einmal davon, daß in seiner Ausführung voraussichtlich nichts gegen eine genauere Abfassung verstieße, und schrieb ehrenhalber einige Worte auf, die in die Richtung des Fehlenden wiesen.
Und als das geschehen war, unterbrach er seine Tätigkeit vollends, sah aus dem Fenster in den Garten, der da im Spätnachmittagslicht lag, und ging sogar für eine Weile hinab, um seinen Kopf der Luft auszusetzen. Er zagte fast davor, daß er jetzt entweder zuviel oder zuwenig behaupten könnte; denn was seiner wartete, damit er es niederschreibe, dünkte ihn wichtiger als alles andere.
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Ulrich und die zwei Welten des Gefühls
«Womit beginne ich am günstigsten?» fragte sich Ulrich hin und her wandernd im Garten, während ihn bald die Sonne an Gesicht und Händen brannte, bald der Schatten kühlende Blätter darauf legte. «Soll ich gleich damit anfangen, daß jedes Gefühl auf zweierlei Weise in der Welt ist und den Ursprung von zwei Welten in sich trägt, die so verschieden sind wie Tag und Nacht? Oder tue ich besser daran, daß ich an die Bedeutung anknüpfe, die das ernüchterte Gefühl für unser Weltbild hat, und dann auf umgekehrtem Wege zu dem Einfluß komme, den unser aus Handeln und Wissen geborenes Weltbild auf das Bild ausübt, das wir uns von unseren Gefühlen machen? Oder soll ich sagen, daß es schon Ekstasen gewesen sind, was ich andeutend als Welten beschrieben habe, in denen sich die Gefühle nicht gegenseitig aufheben?» Aber während er sich noch diese Fragen stellte, entschied es sich schon, daß er mit allem gleichzeitig begann; denn der Gedanke, um den ihm so bangte, daß er das Schreiben unterbrochen hatte, war so beziehungsreich wie eine alte Freundschaft, und es ließ sich gar nicht mehr sagen, wie oder wann er entstanden sei.
Während seiner ordnenden Beschäftigung war Ulrich diesem Gedanken immer näher gerückt – und er hatte sie auch nur seinetwegen aufgenommen gehabt – aber nun, wo er ans Ende gekommen war, mußte sich hinter zerteilten Nebeln Klarheit oder Leere zeigen. Es war kein angenehmer Augenblick, als er die ersten Worte fand, bei denen es verbleiben sollte: «Es stecken in jedem Gefühl zwei grundverschiedene Entfaltungsmöglichkeiten, die gewöhnlich zu einer verschmelzen; sie können aber auch einzeln zur Geltung kommen, und vornehmlich geschieht das in der Ekstase!»
Er nahm sich vor, sie fürs erste die äußere und die innere Entfaltung zu nennen, und sie von der harmlosesten Seite zu betrachten – es standen ihm eine Menge Beispiele dafür zur Verfügung: Gefallen, Liebe, Zorn, Mißtrauen, Großmut, Ekel, Neid, Verzagtheit, Angst, Begehren ..., und er ordnete sie in Gedanken zu einer Reihe. Dann bildete er eine zweite Reihe: Wohlgesinntheit, Zärtlichkeit, Gereiztheit, Argwohn, Gehobenheit, Ängstlichkeit, Sehnsucht, der nur die Glieder fehlten, für die er keinen Namen fand, und verglich die beiden Reihen. Die eine enthielt bestimmte Gefühle, wie sie zumal durch ein bestimmtes Zusammentreffen in uns erregt werden, die andere enthielt unbestimmte Gefühle, die am stärksten sind, wenn man nicht weiß, was sie erregt hat; und doch waren es beidemal die gleichen Gefühle, hier in einem allgemeinen, dort in einem besonderen Zustand. «Ich werde also sagen, daß an jedem Gefühl eine Entwicklung zur Bestimmtheit und eine zur Unbestimmtheit zu unterscheiden ist» dachte Ulrich. «Besser ist aber, wenn ich zuvor gleich alle Unterschiede aufzeichne, die damit verbunden sind.»
Er hätte die meisten von ihnen im Schlaf aufsagen können, aber sie werden jedem geläufig erscheinen, wenn er für die «unbestimmten Gefühle», aus denen Ulrich die zweite Reihe gebildet hatte, das Wort Stimmungen gebraucht, obwohl es Ulrich nicht ohne Absicht mied. Denn unterscheidet man zwischen Gefühl und Stimmung, so ist leicht zu bemerken,
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