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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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einzelnen Wänden vorfand, aber schon Tizian nicht und schon gar nichts aus der Gotik; dagegen überwogen in vielen Abbildungen heutige Nachahmungen in jenem Barockstil, der wie eine fette Omelette unendliche Mengen von Zucker in sich aufgesogen hat. Wenn man den Wänden entlang nur diesen Bildern folgte, wirkte die Häufung geblähter Gewänder und emporgehobener, leerer, ovaler Gesichter und süßlich nackter Leiber beängstigend. Agathe sagte: «Es ist soviel Seele darin, daß das Ganze als eine ungeheuerliche Entseelung wirkt. Und sehen Sie doch: die Aufwärtswendung ist derart zur Konvention geworden, daß die ganze, nicht zu unterdrückende menschliche Lebendigkeit sich in die weniger geachteten Einzelheiten geflüchtet und in ihnen versteckt hat. Finden Sie nicht, daß diese Kleidersäume, Schuhe, Beinstellungen, Arme, Gewandfalten und Wolken von aller sonst zu kurz gekommenen Sexualität überladen sind? Ja, das ist nicht weit von Fetischismus!»
    Nun, Agathe sollte dieses Phänomen der Überladung kennen. Dieses sehnsüchtige sich auf einem Balkon in die Leere Hinauslehnen. Oder, es ist eigentlich umgekehrt: ein unendliches Herandrängen. Mit Schrecken konnte man es hier auf der Grenze zwischen krankhafter Schrulle und Erhebung sehn.
    Lindner hatte keine Ahnung davon. Aber er war von dem Vorwurf erschreckt und versuchte zunächst, geringschätzig von der Schönheit zu sprechen. Der Künstler müsse sich des Stofflichen und Fleischlichen bedienen und hafte daran; daraus folge ein niederer Rang der Kunst. Agathe überschätze sie. Die großen Erlebnisse des Menschen könne die Kunst wohl propagieren, aber nicht zum Erlebnis bringen.
    Agathe hielt ihm ärgerlich vor, daß er dann zuviel solcher Bilder besitze. Die Freiheiten, die man nach seinem Ausspruch der niederen Menschlichkeit im Künstler zugestehen müsse, schienen danach doch auch ihm selbst etwas zu bedeuten. «Was?» fragte Agathe.
    In die Enge getrieben, sprach Lindner seine Ansicht der Kunst aus. Wahre Kunst ist Beseelung des Stoffes. Sie dürfe das Nackte nur darstellen, wenn die Übermacht der Seele über den Stoff aus der Darstellung spreche.
    Agathe wandte ihm ein, daß er sich täusche, denn nicht die Übermacht der Seele, sondern die der Konvention spreche.
    Und plötzlich brach er aus: Oder ob sie meine, daß sich der Nacktkultus der Maler und Bildhauer für einen ernsten Menschen rechtfertigen lasse? «Ist denn der nackte Mensch wirklich etwas so Schönes?! Etwas so Unerhörtes?! Sind die Entzückungen der Kunstmenschen nicht einfach lächerlich, auch wenn man von der Anwendung ernster Moralbegriffe (auf sie) noch gar nicht Gebrauch macht?!»
    Agathe: «Der nackte Körper ist schön!» Du lieber Himmel, es war eine Lüge, nur dazu bestimmt, ihr Gegenüber zu erzürnen. Agathe hatte niemals auf die Schönheit männlicher Körper geachtet. Frauen betrachten heute den Manneskörper meist nur als ein Gestell zur Anbringung des Kopfes. Männer pflegen von Schönheit etwas mehr zu halten. Aber man sollte einmal alle nackten Leiber, mit denen sie unsere Museen und Ausstellungen gefüllt haben, auf einen Platz bringen, und dann sollte einer aus dem Gewirr weißer Raupen[?] die heraussuchen, die wirklich schön sind. Man würde sofort bemerken, daß der nackte Körper gewöhnlich nur nackt ist; nackt wie ein Gesicht, das durch Jahrzehnte einen Bart getragen hat und plötzlich rasiert wird. Aber schön? Daß die Welt stehen bleibt, wenn ein wirklich schöner Mensch erscheint, zeigt Schönheit als ein Geheimnis; weil Schönheit = Liebe und Liebe eben ein Mysterium ist, stimmt es ins Ganze. Ebenso, daß man den Begriff der Schönheit verloren hat (Kunstbetrieb). So sitzt sie da, und Ulrich spricht aus ihr.
    Aber Lindner fällt sofort auf die Herausforderung herein.
    «So!» rief er aus. «Oh, natürlich, der moderne Leibeskultus erregt die Phantasie einseitig und erhitzt sie mit Ansprüchen, die das Leben nicht erfüllen kann! Sogar die übertriebene Körperpflege, die uns die Amerikaner beschert haben, ist eine große Gefahr!»
    «Sie sind ein Gespensterseher» sagte Agathe gleichgültig.
    Lindner darauf: «Viele reine Frauen, die ohne Lebensbekenntnis solche Dinge begrüßen und mitmachen, bedenken nicht, daß sie damit Geister beschwören, die vielleicht noch ihr eigenes Leben und das ihrer Nächsten zerstören können!»
    Agathe antwortete scharf: «Soll man etwa nur alle vierzehn Tage baden? Die Nägel abbeißen? Flanell tragen und nach Frostsalbe

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